Operation Schneewolf - Meade, G: Operation Schneewolf - Snow Wolf
mir sehr leid, Henri.«
Lebel starrte die Frau an, gelähmt vor Entsetzen. Er hatte zwar mit dem Schlimmsten gerechnet, wollte es aber nicht glauben. Er warf sich auf seine schmutzige Koje, rollte sich zusammen und weinte.
Bilder und Erinnerungen brannten in seinem Kopf. Wie unschuldig hatte Klara ausgesehen, als er sie kennenlernte!Wie hatte er sie beschützen wollen. Er erinnerte sich an den Augenblick, da er ihr seine Liebe gestand, an das erste Mal, als sie miteinander geschlafen hatten. Das Leid und die Qual, die ihn übermannten, waren beinahe unerträglich. Schließlich stemmte er sich von seiner Koje hoch, zog seine Anstaltsjacke aus und band sie an das oberste Bett. Dann legte er seinen Kopf in die Schlinge und ließ sich fallen.
Als er langsam erstickte, hörte er einen Schrei.
»Henri!«
Irina stürmte in die Baracke und versuchte, ihn loszubinden. Lebel wehrte sich und schlug wild um sich. Er wollte sterben. Aber Irina ließ nicht von ihm ab. Die beiden kämpften auf dem Boden. Lebel schnappte nach Luft und schlug die junge Russin.
»Verschwinde! Laß mich sterben!«
»Nein, Henri, nein!«
Es kostete Irina ihre ganze Kraft, Lebel zu beruhigen und ihm ins Bett zu helfen. Dann lag er wieder zusammengerollt auf der Koje und weinte sich die Augen aus.
Irina legte ihm fest die Hand auf die Schulter. »Der Blockwart hat es mir erzählt. Ich bin hergekommen, weil ich dich trösten wollte.«
Lebel rannen die Tränen über die Wangen. »Du hättest mich sterben lassen sollen. Warum hast du mich daran gehindert? Warum? Du hast kein Recht …«
»Doch, Henri Lebel. Wir Juden müssen zusammenhalten. Du und ich, wir beide werden überleben. Hast du gehört?«
Lebel sah Irina verblüfft an. »Du …? Eine Jüdin?«
»Ja, ich. Eine Jüdin.«
»Aber die Deutschen … Sie wissen es nicht.«
»Warum sollte ich es ihnen auf die Nase binden? Bringen sie nicht schon genug Juden um?«
Lebel starrte sie immer noch an, und der Schmerz ließ langsam nach. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
Irina lächelte und zuckte mit den Schultern. »Was spielt es für eine Rolle, was ein Mann oder eine Frau ist? Ändert das deine Meinung über mich?«
»Nein.«
»Gut. Nimm einen Schluck hiervon.«
Sie hielt ihm eine kleine Flasche von dem schwarz gebrannten Wodka hin. Er weigerte sich, aber sie drängte ihn.
Die freundliche Russin schaute ihm ins Gesicht, und Lebel bemerkte das Mitgefühl in ihrem Blick.
»Und jetzt, Henri Lebel, möchte ich mit dir das Kaddisch beten. Dann gehst du wieder an die Arbeit und versuchst, den Schmerz zu verdrängen. Vergiß eines niemals: Der Tod deiner Frau bleibt nicht ungesühnt. Eines Tages wird die Welt von diesem Lager erfahren. Damit das geschieht, müssen ein paar von uns überleben. Verstehst du, Henri Lebel?«
Lebel nickte und wischte sich die Augen.
Irina nahm ihn bei der Hand und lächelte. »Komm, laß uns niederknien und das Kaddisch für deine Frau beten.«
Es war eine unwirkliche Situation. Inmitten des Leids und des Todes hatte Lebel sich mit der jungen Russin niedergekniet und das uralte hebräische Totengebet aufgesagt. Anschließend hatte er wieder geweint. Irina hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und ihn umarmt. Dann hatte sie ihm das größte Geschenk gemacht, das eine Frau einem Mann geben kann, um ihn zu trösten: Sie hatte ihm ihren Körper angeboten.
Trotz der schmutzigen Baracke und ihrer ungewaschenen Körper hatte dieses Miteinander etwas Schönes und Anrührendes, was Henri Lebels Glauben an die Menschlichkeit wiederbelebte. Als Irina ihn anschließend in den Armen hielt, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Vergiß eins nie, mein kleiner Franzose: Nur wenn wir überleben, gibt es Gerechtigkeit.«
Von diesem Tag an waren Henri und Irina sowohl Freunde als auch ein Liebespaar geworden. Sie ertrugen die endlosen Demütigungen des Lagerlebens, lachten zusammen, wann immer es ging, teilten jeden Brocken Lebensmittel, den sie irgendwo organisieren konnten, um die mageren Essensrationen aus wäßriger Rübensuppe und schalem Schwarzbrot aufzubessern, betranken sich mit verbotenem Wodka, wann immer sie konnten, und versuchten alles, um die Todesangst und die Qualen um sie herum zu mildern.
Lebel sah Irina das letzte Mal drei Tage nach der Befreiungdes Lagers durch die Russen. Man half ihr auf die Ladefläche eines Lastwagens, der sie hinter die russischen Linien bringen sollte. Es gelang ihr kaum, sich auf ihren langen, zerbrechlichen Beinen zu halten.
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