Opernball
zusammen, daß wir nicht das tun durften, was wir längst hätten tun müssen. Bei der Opernballdemo sagte unser Truppleiter: »Jetzt versetzen wir dieser Schweinepest den Gnadenstoß!«
Im Grunde war das nichts anderes als eine Ermunterung, so gut wie möglich zu sein. Man zog den Chaoten den Knüppel dann vielleicht etwas stärker über und wählte das Ziel nicht lange aus, man gab ihnen, wenn es sich gerade anbot, einen Tritt in den Bauch, in die Eier, vielleicht auch in die Schnauze, aber eigentlich nur, um etwas mehr Eindruck zu hinterlassen. Sicher nicht, um jemanden zum Krüppel zu schlagen, oder gar zu töten.
Aber dann kenne ich noch ein anderes Gefühl, das es bei einem Demonstrationseinsatz eigentlich nicht geben dürfte. Es ist der dringende Wunsch, dich deines Gegners zu entledigen. Du willst dieses Hundevolk nicht nur einfach verscheuchen, du willst kurzen Prozeß mit ihm machen. Aber dieses Gefühl darfst du nicht haben, du darfst es nicht äußern, und schon gar nicht darfst du es ausleben. Du mußt versuchen, es irgendwie unter Kontrolle zu kriegen, du mußt mit allen Mitteln diesseits der Grenze bleiben. Die Grenze ist hauchdünn. Diesseits bist du ein guter Polizist, jenseits bist du ein Krimineller. Normalerweise, wenn man in Ruhe darüber nachdenken kann, kennt man diese Grenze. Wenn es hart hergeht, verliert man sie aus den Augen. Gewöhnlich passiert dann nichts. Hat man halt einen bewaffneten Kriminellen erschossen. Das ist nicht weiter schlimm. Die Zeitungen stehen in so einem Fall felsenfest hinter dir. Die Gerichte fragen nicht nach. Bei Demonstrationen hingegen ist es besonders schwierig. Weil man von diesem Revoluzzergesindel viel mehr herausgefordert wird als von jedem bewaffneten Gangster und weil man nichts Wirksames dagegen unternehmen kann.
Die Entwicklung dieser Opernballdemo muß man so sehen. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Ich habe Ihnen doch erzählt, wir haben uns den ganzen Abend hindurch nichts zuschulden kommen lassen. Wir haben uns trotz drückender Unterlegenheit diesseits der Grenze gehalten und jede Provokation über uns ergehen lassen. Und dann, als hätten wir den ganzen Abend wild um uns geschossen, dieses dauernde »Mörder, Mörder«. Das war zuviel. Es war nicht mehr auszuhalten. Da hast du plötzlich das dringende Bedürfnis, ihnen zu zeigen, was ein Mörder ist.
Über Funk forderten wir die Grenzschützer wieder an, die uns irrtümlich im Stich gelassen hatten. Sie versuchten, sich vom Musikverein her zu uns durchzuschlagen. Es sah aber nicht danach aus, als ob sie Erfolg hätten. Das immer lauter werdende »Mörder‹‹-Geschrei lockte mehr und mehr Chaoten an. Unser Truppleiter schrie verzweifelt ins Funkgerät: »Wir brauchen dringend Hilfe!«
Die Antwort: »Grenzschutztrupp Skorpion ist unterwegs. Sonst sind keine Reserven frei.«
»So hört euch doch das an«, schrie unser Truppleiter. Er hielt die Taste ein paar Sekunden gedrückt, damit die Sprechchöre durchkamen. Dann fuhr er fort: »Ihr hört doch, sie sind narrisch geworden. Wenn ihr nicht sofort Hilfe schickt, kann ich für nichts garantieren.«
Es gab keine Antwort. Die Menge wurde immer dichter und unübersehbarer, preßte sich von allen Seiten gegen uns. Wir waren drauf und dran, erneut auf die Verletzte zu treten und sie zu zerdrücken. Lange hätten wir nicht mehr durchgehalten.
Zum Glück kam das Rettungsauto. Die Chaoten gaben einen Korridor frei. Der Wagen blieb neben der Verletzten stehen, hinten wurde die Doppeltür aufgerissen, und heraus sprangen gut zwanzig Kobramänner in ihren Kampfanzügen. Die Kobra ist unsere Antiterroreinheit. Die Sanitäter und der Rettungsarzt waren in der Fahrerkabine zusammengepfercht. Es gab ein furchtbares Pfeifkonzert, dann begann wieder dieses »Mörder‹‹-Geschrei.
Das Mädchen lag noch da, so, wie die Kollegen vom Eingreiftrupp sie hingelegt hatten. Sie hatte sich seither nicht gerührt. Seitlich, ein paar lange Haarsträhnen im Gesicht, auf der Stirn eine Platzwunde. Sonst war keine Verletzung zu sehen. Unter ihren Kopf hatte jemand ein herumliegendes Palästinensertuch geschoben. Die Rettungsmänner beugten sich über die Frau.
»Moment«, sagte der im weißen Mantel, offenbar der Rettungsarzt, und hielt die anderen zurück. Er holte aus dem Auto einen Packen Einweghandschuhe, die sie überstreiften. Dann erst zog er der Frau das Augenlid hoch und leuchtete mit der Taschenlampe auf die Pupille.
»Die lebt noch«, sagte er.
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