Opernball
des Saales her, ganz ohne Kommando. Die letzten Worte, die allseits geflüstert wurden, lauteten: Seyß-Inquart und Bürckel. Plötzlich hoben alle den rechten Arm zum Hitlergruß. Das war der Moment, als Reichsstatthalter Seyß-Inquart und der damalige Reichskommissar Gauleiter Bürckel in der Mittelloge erschienen. Wir hatten damals keinen Sitzplatz, sondern standen, eingezwängt in der Menge, beim hinteren Saaleingang und konnten die beiden nicht einmal sehen. Dann wurde eine Fanfare geblasen, von Soldaten, die über Treppen auf die Bühne herabkamen und den Einzug der Jungherren und Jungdamen zur Fächerpolonaise ankündigten. Das waren aber andere Treppen als heute.«
Mein Vater zog die Brille auf die Nase herab und schaute über den Brillenrand hinweg auf das Staatsopernorchester, das am anderen Ende des Saales unter der Festloge die Fanfare in C von Karl Rosner zu blasen begann. Unter ihren Klängen zogen einen Stock höher der Bundespräsident, der Bundeskanzler, der Vizekanzler, der Kunstminister und der Generaldirektor der Bundestheater mit ihren Gattinnen in die Logen ein. Sie stellten sich, der Bundespräsident in der Mitte, hinter der Brüstung auf und schauten andächtig. Die Fanfare war zu Ende, gespielt wurde die Bundeshymne.
Danach lief im Takt der Fächerpolonaise eine Gruppe von Elevinnen und Eleven der Ballettschule der Wiener Staatsoper die Bühnentreppe herab und formierte sich zu artigen Kreisen, die sich gegeneinander drehten. Die Bühnentreppe war direkt neben unserer Loge. Sie setzte sich noch ein wenig in den Bühnenraum hinein fort. Über diese Treppe zog nach der kurzen Darbietung der Ballettschüler eine schier endlose Kolonne von weiß und schwarz gekleideten Menschen, die sich in einem rhythmischen Wellenspiel zum anderen Ende des Saales bewegte, in der Mitte eine Linie rosa Bouquets, flankiert von zwei weißen Streifen, begrenzt von den schwarzgekleideten Männern, in die sich ein unangenehmes Grüngrau der Militärs mischte.
»Das ist viel beeindruckender als 1939«, sagte mein Vater. »Damals waren es vielleicht vierzig Paare, heute ist das ganze Parkett voll von Debütanten. Es muß schwer sein, diese Horde zu dirigieren. Wie lange proben die?«
Ich konnte es ihm nicht sagen. Herbert zuckte mit den Achseln.
»Soviel ich weiß«, sagte er, »hat das eine Tanzschule übernommen.«
»Aber offenbar proben manche zuwenig«, sagte mein Vater mit Blick auf das Paar, das direkt vor uns stand und allen Bewegungen eine Spur hinterher war.
»Ihr wißt ja, damals war ich mit einer Assistentin der Theaterwissenschaft zusammen.«
Mein Vater erzählte alles mehrmals. Aber es hatte keinen Sinn, ihm das zu sagen, weil er sich das schon gar nicht merkte. Ließ man ihn eine Geschichte nicht zu Ende erzählen, begann er kurz danach von vorne. Doch diesmal redete er nicht weiter.
»Was war mit ihr?« fragte ich.
»Ich habe sie geliebt«, sagte er, »unendlich geliebt. Aber sie hat ihre Karriere mir vorgezogen.«
»Sie hätte doch neben Dir auch Karriere machen können.«
Mein Vater wandte den Blick nicht ab von den schwarzweißen Reihen, die auseinandergingen, sich schlossen, ineinanderzufließen schienen und sich zu einer neuen Ordnung formten. Die Frauen trugen mit Straß besetzte silberne Krönchen und hielten kleine Bouquets in ihren mit weißen Handschuhen bekleideten Händen. Einmal war das ganze Blickfeld schwarz, gleich darauf weiß, dann wieder schwarzweiß gesprenkelt. Der Dirigent setzte die Töne wie ein Akupunkteur die Nadeln.
»Du vergißt«, sagte mein Vater, »es war Nazizeit. Wegen meiner schönen Assistentenkollegin bin ich in die Partei eingetreten.«
»Was?« entfuhr es mir, wahrscheinlich viel zu laut, »Du warst ein Nazi?«
Er ergriff meine Hand und schüttelte den Kopf. »Ach, lassen wir das«, sagte er.
Ich war schockiert. Mein Vater hatte erzählt, daß er als junger Dozent gezwungen war, für die Rüstungsindustrie zu forschen, vor allem für die Raketentechnik. Einmal, es war wohl gegen Kriegsende, besuchte er mit einer Delegation von Forschern einen Stollen im Gau Oberdonau, wie die Gegend damals hieß. Der Stollen muß offenbar auf dem Gelände einer Bierbrauerei gewesen sein, denn sie wurden von einem Bierbrauer in allen Ehren empfangen und bewirtet. Danach besuchten sie diesen Stollen, in dem die Raketenproduktion ausgelagert war. Dort sah er halb verhungerte, ausgemergelte Fremdarbeiter, die erbarmungslos zur Arbeit angetrieben wurden. Er sagte, sie
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