Opfer der Lust
gehen, doch Aaron hielt sie zurück. „Nein.“
„Was dann?“
Sie verlagerte ungeduldig ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Wieso rückte er nicht mit der Sprache heraus? Sie musste dringend mit ihrem Vater sprechen. „Ist mein Dad im Haus?“
Er nickte und sie meinte, Tränen in seinen Augen funkeln zu sehen, doch das konnte auch das Licht der Laterne bewirken.
„Dann ist Mom bei ihm, ja? Der Unfall war nicht so schlimm, sodass die Ärzte sie gleich nach Hause geschickt haben“, mutmaßte sie.
„Bethy, es tut mir so schrecklich leid. Ich bin am Boden zerstört, aber ich muss dir mitteilen, dass der Unfall –“ Seine Stimme versagte. Er musste sich räuspern, um fortfahren zu können. „Blanches Wagen ist aus noch ungeklärten Gründen durch die Kaimauer der Paul‘s Bridge gerast und in den Neponset River gefallen. Der Fluss ist nicht tief, aber Blanche war nicht angeschnallt und wurde durch die Frontscheibe geschleudert. Sie lag im Wasser, vermutlich bewusstlos, mit dem Kopf unter der Oberfläche.“ Er brach ab.
Eine starke Übelkeit stieg so heftig in Beth auf, dass sie würgen musste. Aber sie fing sich wieder. Ihre Augen wurden feucht und schon bald rannen Tränen über ihre Wangen. „Mom ist tot?“
„Es tut mir so leid“, wiederholte er hilflos und wollte ihre Wange streicheln, doch sie schlug seine Hände weg und rannte ins Haus.
„Dad? Wo bist du?“, rief sie schon im Treppenhaus.
Mantis öffnete die Wohnungstür und sie fiel ihm in die Arme. Liebevoll strich er über ihr Haar. „Ich bin hier, Pumpkin.“
Wie sie diesen Kosenamen hasste! Aber das spielte jetzt keine Rolle. Nichts spielte mehr eine Rolle, nicht einmal, ob Blanche ihre leibliche oder ihre Adoptivmutter war. „Sie kommt nicht wieder heim, nie wieder.“ Ihre Worte waren kaum zu verstehen, weil sie heftig schluchzte.
Zärtlich küsste er ihre Stirn. „Ich bin ja noch da. Wir müssen jetzt zusammenhalten, Kleines. Wir beide sind die ganze Familie Hart. Mehr Familienmitglieder gibt es nicht.“
„Ich kann das alles nicht glauben“, sagte sie verzweifelt. „Wie konnte das nur passieren?“
Mantis zog sie seufzend in die Wohnung und schloss die Tür. „Deine Mom hat immer mehr Alkohol getrunken. Zuerst war es ein Glas Rotwein täglich, dann eine ganze Flasche. Was du vielleicht nicht weißt, ist, dass sie auch hin und wieder Beruhigungstabletten genommen hat. Die Cops waren eben hier und haben die Pillendöschen als Beweis mitgenommen.“
Bethany ließ sich erschöpft auf das Sofa fallen. Der Wunsch, Kade wäre jetzt bei ihr, überraschte sie, doch sie verdrängte ihn. Sie musste ihn vergessen.
Ihr Vater kam zu ihr, reichte ihr eine Packung Papiertaschentücher und setzte sich neben sie. „Es ist alles meine Schuld. Ich habe Blanches Sucht erkannt, aber nichts dagegen unternommen.“
„Oh, nein, Dad, so darfst du nicht denken.“ Sie trocknete mit einem Taschentuch ihre Tränen und legte die andere Hand auf seinen Rücken.
Er neigte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Oberschenkeln ab und rieb die Handflächen aneinander. „Blanches Alkoholsucht war mir bewusst, aber nicht, dass sie depressiv war.“
Verdutzt nahm Beth ihre Hand fort. „Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Mom hatte Kummer und konnte ihn nicht verarbeiten.“ Sie vermied es zu erwähnen, dass ihr Vater durchaus Mitschuld am Seelenzustand ihrer Mutter trug. Vorwürfe brachten niemandem etwas. Sie mussten zusammenhalten, jetzt mehr denn je.
„Wein und Tabletten, warum, glaubst du, hat sie das Zeug zu sich genommen?“ Zerknirscht sah er seine Tochter an. „Um ihre Depressionen zu betäuben.“
Hatte dieser Cocktail in Wahrheit ihre Mom umgebracht? Konnte es sein, dass sie in der Nacht depressiv war, beides zu sich genommen hatte und mit dem Auto durch Boston gefahren war? Ihr kam ein fürchterlicher Verdacht. „Meinst du, sie ist absichtlich gegen die Kaimauer gefahren?“
„Das liegt doch auf der Hand, es war Selbstmord. Ich wünschte, ich könnte all das von dir fernhalten, Pumpkin, aber ich bin machtlos.“
Beth strich einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. Sie konnte kaum klar denken. So viel war in dieser Nacht passiert, lauter schreckliche Dinge.
Sie erinnerte sich daran, wie der Abend angefangen hatte. Voller Tatendrang war sie zu ihren Eltern gegangen und hatte Versöhnung mit ihnen gefeiert, um Mantis‘ Schlüsselbund zu entwenden, das noch immer in ihrer Hosentasche steckte und mit einem Mal so schwer
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