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Opfer fliegen 1. Klasse

Opfer fliegen 1. Klasse

Titel: Opfer fliegen 1. Klasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Wolf
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wartete. Vermutlich war dort auch ein
Telefonbuch, beziehungsweise waren dort deren zwei, dickleibig und versehen mit
den Namen aller Fernsprechteilnehmer aus der Millionenstadt.
    TKKG schoben ihre Bikes die
kurze Strecke, dann blätterte Tim unter F, fand mehrere Flörchingers, aber nur
eine Irene. Sie wohnte in der Hackenbeulstraße, die zu einer noblen Gegend
gehört. Also handelte es sich vermutlich um die Ex-Gattin des Verstorbenen, die
keine Abstriche an ihrem Lebensstandard gemacht hatte. Denn auf gewohnten Luxus
verzichten geschiedene Ehefrauen nicht. Warum sollten sie auch, dachte Tim. Muß
ja nicht ihre Schuld gewesen sein, daß die ,Konnäktschen’ in die Hose ging.
Meistens ist es immer noch er, der unerlaubt nach anderen schielt und auch
grapscht — trotz Emanzipation und erfolgreicher Aufholjagd der Weiblichkeit auf
allen Gebieten. Ja, tatsächlich auf allen. Denn Frauen rauchen heutzutage mehr
als die Männer und fallen auch vermehrt der Trunksucht anheim — beides mit den
bekannten Folgen.
    Er wählte.
    „Was willst du sagen?“ fragte
Gaby.
    „Noch nichts Bestimmtes.“
    „Jag ihr nicht gleich einen
Schrecken ein!“
    „Am besten, ich sage, wir
kommen vorbei, weil unsere Message nichts fürs Telefon ist.“
    „Gut!“
    Es läutete schon zum fünften
Mal. Aber niemand hob ab. „Sie geht nicht ran“, teilte Tim mit.
    „Vielleicht hat sie die Trauer
zu Boden geworfen“, meinte Klößchen!

    „Eher nicht.“
    „Oder“, überlegte Gaby, „sie
ist schon beim Notar. Wegen des Testaments.“
    Tim wartete das zehnte Läuten
ab. Dann legte er auf. „Wir versuchen es später noch mal.“
    Gaby mußte heim, hatte ihrer
Mutter versprochen, in deren kleinem Lebensmittelgeschäft, das sich mehr und
mehr auf Delikatessen spezialisierte, noch ein bißchen zu helfen; denn am
Freitagabend geht’s immer heiß zu — besonders was die Produkte aus der
Tiefkühltruhe betrifft, wie Scampi, Langusten, Paradies-Eiskrem oder
Feinschmeckersalate. Am Freitagabend kauft das gesamte Altstadt-Viertel bei
Frau Glockner ein, und nicht selten tanzen auch schneidige Typen an zwischen 15
und 20 — weil sie hoffen, Gaby zu sehen. Das sind ausnahmslos Typen, die von
Tim nichts wissen. Sonst würden sie sich nicht trauen.
    Tim verabschiedete sich von
seiner Freundin mit einem Bussi. Dann führten die Wege in drei Richtungen. Gaby
radelte stadteinwärts und winkte noch zweimal, während Tim ihr versonnen
nachblickte und mal wieder feststellte, daß sie auch auf dem Bike das
entzückendste Geschöpf war in seinem Universum. Karl fuhr in den gepflegten
Garten zurück, um nun endlich die Geräte in den Schuppen zu stellen. Tim und
Klößchen jagten in südliche Richtung stadtauswärts — zur Internats-Schule, die
sie längst als ihre eigentliche Heimat ansehen, jedenfalls was das Hausen und
Wohnen betrifft.
    Klößchen wollte noch was vom
Abendessen ergattern, war also ungewohnt flott. Tim empfand den Fahrtwind als
kühlend.
    Als sie über die
Chaussee-Straße zischten, berührte im Westen die Sonne den Horizont und goldene
Strahlen speerten über den schwarz und schweigend stehenden Wald in der Ferne.
Die Weiden rochen nach Dung. Vom Internat her kamen schnittige Sportwagen
entgegen, besetzt mit den älteren Schülern, die generöse Eltern haben und seit
kurzem auch den Führerschein. Die lässigen Driver gingen cool den Freitagabend
in der Millionenstadt an, überlegten vermutlich, welche Disko sie beehren
sollten, welche In-Kneipe und welche ihrer Freundinnen. Albrecht-Eisenhart
Krösch von Eupshoven donnerte auf seiner Harley vorbei und trug eine schwarze
Anprallkappe, die wie Draculas Bowlingkugel aussah. Albrecht-Eisenhart steckte
wie immer in seinem schwarzen Lederanzug, der zwar den Wind abhält, aber nicht
den Regen. In diesem Outfit hatte der Typ angeblich einer Premiere im Opernhaus
beigewohnt und dort einen Parkettsitz gehabt, Reihe fünf. Jetzt hob er eine
Hand lässig zum Gruß, und Tim erwiderte mit gleicher lässiger Geste.
    Im Internat war es still
geworden. Nur die Schüler von Unter- und Mittelstufe waren noch auf dem
Bolzplatz, im Hallenbad oder in der Turnhalle. Die Trägen mit dem
anspruchslosen Verstand hingen im Fernsehraum herum und zogen sich
Vorabend-Serien rein, die an Doofheit nicht zu überbieten sind. Die schlauen
Köpfe hatten sich in ihre Phantasiewelt zurückgezogen und hielten ein
aufgeklapptes Buch in der Hand.
    Tim und Klößchen hatten die
Bikes in den Fahrradschuppen gebracht.

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