Opfer fliegen 1. Klasse
Klößchen sauste zum Speisesaal, wo
gerade abgeräumt wurde. Aber da er sich sowohl mit der Hauptköchin wie auch mit
den Helferinnen bestens versteht, würde für sein leibliches Wohl noch gesorgt
sein.
Als Tim am Fernsehraum A
vorbeiging, stand die Tür offen. Zwei Dutzend TV-Glotzer waren mit dem Programm
nicht zufrieden, und Christian Neuke-Löhrmann zappte per Fernbedienung durch
die Sender. Eben hatte er die lokalen Nachrichten erwischt, was aber keinen
interessierte, und wollte weiter switschen.
„Halt!“ brüllte Tim, und alle
fuhren erschrocken herum.
„Mach mal zurück, Christian!“
Der tat’s.
„...hat die Polizei noch keine
Spur von Bosko Müller und Eckhart Diepholz gefunden“, verkündete ein Sprecher
aus dem Off. „Die Bevölkerung wird um Mitarbeit gebeten. Hinweise nimmt jede
Polizeidienststelle...“
Tim konzentrierte sich auf die
gezeigten Fotos der beiden Ausbrecher. Diepholz, auch Fischhaut genannt, war
ein hagerer Hüne mit bleichem, bösem Gesicht und beilartiger Nase. Er sei 39,
sagte der Sprecher. Müller war untersetzt, hellblond, hatte kurz geschorenes
Haar und eine wulstlippige Einfüll-Luke.
Kotztypen, dachte Tim. Hm,
jetzt weiß ich wenigstens wie sie aussehen.
Er ging weiter und hörte, wie
einer der Jungs die Tür von Raum A schloß. Man wollte ungestört sein.
Tim lief hinauf zur Bude
,Adlernest’, legte die durchgeschwitzten Klamotten ab, duschte im Waschsaal und
versuchte im Laufe des Abends noch dreimal, Irene Flörchinger telefonisch zu
erreichen. Aber bei der Ex-Gattin des verstorbenen Leipel war total tote Hose,
und sie hatte offenbar auch keinen automatischen Anrufbeantworter.
Dann, dachte Tim, bleibt uns
keine Wahl, als den Kontakt mit ihr auf morgen zu verschieben. In der Hoffnung,
daß Leipels posthumer Anschlag keine Sofortwirkung hat. Immer vorausgesetzt, an
unserem Verdacht ist was dran. Aber das ist es! Darauf würde ich wetten.
9. Wie bei einem Ritterturnier
Gegen 22 Uhr an diesem Abend
kamen Patrick Schröder Bedenken. Der 19jährige war vernarrt in Nadja Kühnert,
als wäre sie das einzige Mädchen auf der Welt, und fand den Vorschlag seines
Freundes — und Rivalen bei Nadja — zwar grundsätzlich gut. Denn ein Duell auf
der Basis von Mut, Abenteuer und kriminellem Kitzel paßte zu ihnen beiden. Doch
die Entscheidung sollte getroffen werden durch die Höhe der Beute. War es denn
dann erforderlich, daß sich die Zuberaubenden — die beiden Onkels — während des
Einbruchs zu Hause aufhielten?
Patrick rief Kurt an. Und der
meldete sich mit einem entspannten Gähnen.
„Ja?“
„Ich bin’s.“
„Hallo, Patrick. Wo brennt’s?“
„Bist du allein?“
„Klar. Weit und breit kein
Mädchen in meiner Bude. Ich denke gerade an Nadja.“
„Ich auch.“
„Aber ich denke intensiver an
sie. Mit mehr Leidenschaft.“
„Hahahah!“
„Also gut! Keinen Streit. Denn
das werden wir ja anders austragen.“
„Deshalb rufe ich an“, sagte
Patrick.
„Hm?“
„Etwas an deinem Vorschlag
kapiere ich nicht.“
„Der ist doch super. Oder?“
„Ja, schon. Aber die Höhe der
Beute soll über den Sieger entscheiden. Und der Verlierer buhlt dann nicht
länger um Nadja.“
„Exakt.“
„Dann können wir doch die
Einbrüche machen, wenn es günstig ist. Und günstig ist es, wenn keiner zu Hause
ist. Nicht umsonst baldowern Profis das aus und sprechen dann von reiner Luft —
wobei nicht Elektro-Smog und Ozon-Werte gemeint sind.“
„Hm. Ja.“
„Morgen ist das
Überlebens-Club-Treffen im Hotel ‚Königssohn’. Dein Onkel und mein Onkel nehmen
teil. Ist doch die Gelegenheit! Was hindert uns, gerade dann zuzuschlagen?“
„Tja!“ sagte Kurt und dachte:
Verdammt! Aus der Warte der Logik hat er recht. Aber wenn Onkelchen Werfall
nicht zu Hause ist, kann er meinen Freund nicht erschießen.
„Ich sehe das anders.“ Kurt
feuchtete seine Lippen mit Spucke an. „Was wir vorhaben, ist doch keine schnöde
Bereicherungstat, sondern eine Art ritterliches Turnier — von der Idee her wie
im Hochmittelalter. Es geht um Minne. Um die Liebe. Es geht um ein
verehrungswürdiges Weib. Um Nadja. Wir sind die Ritter. Aber wir legen nicht
die Lanzen ein, um ihre Gunst zu erringen, wir sitzen nicht gepanzert auf
schnaubenden Rossen, sondern wir befinden uns am Ende des zweiten Jahrtausends
— und eigentlich müßten wir unser Duell mit Computern austragen im Internet.
Aber da fehlt die Romantik, das Kribbeln des wirklichen
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