Opfer
hinweg. »Sie meinen wohl, ich soll Sie vor dem Interview weichklopfen, was?«
Bevor sie antworten konnte, kehrte der Kellner mit ihrer Flasche zurück. Während sie zusah, wie er das Siegel brach und das blubbernde Wasser einschenkte, versuchte sie, ihre Aufregung unter Kontrolle zu bringen und immer eine Frage im Voraus zu denken. Sie erinnerte sich daran, dass sie mit schmutzigen alten Männern wie ihm noch in jeder Redaktion fertiggeworden war. Sie redete sich ein, dass er auch nicht anders war.
Sie lächelte weiter, als der Kellner sich wieder verbeugte und ging.
»Warum?«, fragte sie. »Was für ein Interview haben Sie sich denn vorgestellt?« Sie trank einen Schluck Wasser und parierte sein Starren, indem sie die Augenbrauen hochzog, was amüsiert wirken sollte. »Mit Ihrem Pressesprecher ist da wohl ein bisschen die Phantasie durchgegangen. Wir wollen hier doch nur mit einem freundlichen Artikel Seiten füllen. Sie wissen schon, das Porträt eines Musterbürgers, darüber, was seine Zeit in Ernemouth ihm gegeben hat und was er nun zurückgibt.«
»Tatsächlich?« Rivett griff sich ins Jackett und zog eine Schachtel schmaler Zigarren und ein langes, dünnes, goldenes Feuerzeug heraus. »Stört es Sie, wenn …?«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Francesca.
»Danke«, sagte er und knipste das Feuerzeug an. Das Ende der Zigarre knisterte und erglühte rot, als es Feuer fing. Rivett zog und blies anschließend eine Rauchwolke in die Luft.
»Dann erzählen Sie mal«, forderte er sie auf. »Was gibt er unserer schönen, alten Stadt denn zurück?«
»Zum Beispiel hält DCI Smollet engen Kontakt zu seiner alten Schule«, erklärte sie. »Ich nehme an, er möchte den Schülern der Ernemouth High als Vorbild dienen, in dessen Fußstapfen sie treten können, wenn sie fleißig sind.«
»Sehr edel«, erwiderte Rivett. »Wie sind Sie denn auf die Idee zu diesem Artikel gekommen?«
Francesca schaute ernst und lehnte sich nach vorne in den Rauch. »Wissen Sie, an unserer heutigen Gesellschaft stört mich vor allem der Zerfall der Familie. Sie kennen sich da sicher besser aus als ich.« Sie sah ihn durchdringend an. »Aber heutzutage wachsen so viele Jungen ohne Vater oder zumutbare Vaterfigur auf. Da ist es kein Wunder, dass Jugendkriminalität und asoziales Verhalten immer weiter zunehmen. Ohne positive männliche Vorbilder ist das doch vorprogrammiert, nicht wahr?«
Rivett nickte. »Traurig aber wahr, Miss Ryman, traurig aber wahr. Wir haben gottlos gelebt«, sagte er und erwiderte ihren ernsten Blick. »Und jetzt ernten wir, was wir gesät haben.«
*
»Jason«, sagte Smollet, der immer noch Sean ansah, »ich hab dir doch gesagt …«
Die Person am anderen Ende fiel ihm ins Wort. Sean konnte sie nicht verstehen, aber als Smollet den Kopf einzog und den Blick auf den Schreibtisch senkte, war klar, dass es unerwartete Neuigkeiten gab – oder das Ganze war eine vorher abgesprochene Finte.
»Du hast was ?«, fragte Smollet und verzog das Gesicht. »Moment mal, Jason, ich versteh kein Wort.« Er sah kurz zu Sean hoch und formte mit dem Mund ein »Tut mir leid.«
»Wer?«, fragte er hörbar erstaunt. »Was? Meine Anordnung? Das ist mir neu …«
Er starrte wie durch Sean hindurch an die Wand. Der Muskel unter seinem Auge zuckte wieder.
»Ist gut jetzt, Jason«, bellte er. »Ich bin gleich unten.«
Er legte auf und starrte das Telefon ungläubig an. Dann riss er sich wieder zusammen und schaute Sean an.
»Tut mir schrecklich leid, Mr Ward«, sagte er. »Aber ich muss hier erst mal Schluss machen. Die Pflicht ruft.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Wir können morgen früh weitermachen.« Er sah auf die Uhr. »Würde Ihnen neun Uhr dreißig passen?«
Sean steckte das Diktaphon wieder ein. »Okay. Ist …«
»Wenn Sie jetzt bitte gehen würden?« Der DCI wirkte extrem angespannt, er kam um den Schreibtisch und hielt Sean die Tür auf, bevor der überhaupt hatte aufstehen können. »Ich muss mich um eine wichtige Angelegenheit kümmern.«
*
»Deshalb bin ich der Meinung, dass DCI Smollets Zusammenarbeit mit der Schule sehr wertvoll ist«, sagte Francesca, die einen derartigen Ausbruch alttestamentarischer Ansichten, die ihren eigenen Überzeugungen auch noch nahestanden, nicht erwartet hatte. Sie merkte, dass Rivetts Blick jetzt auf ihremAmulett ruhte. »Dieser Artikel soll Teil eins einer wöchentlichen Serie werden.«
»Ach ja?« Rivett blickte ihr wieder in die Augen. »Wer ist denn als
Weitere Kostenlose Bücher