Opfer
Ihnen?«, fragte Francesca, die sich fragte, wo sie den Namen schon mal gehört hatte. Ein Bild von ihren Eltern blitzte vor ihrem inneren Auge auf, wie sie sich über den Küchentisch gebeugt im Flüsterton unterhielten.
»Genau«, erwiderte Rivett, fasste sie wieder am Ellenbogenund führte sie an einer Reihe verschlossener Bretterbuden vorbei, deren grelle Schätze auf die nächste Saison warteten. »Und genau hier« – er zeigte auf eine mit der Aufschrift Magic Darts – »fing für den jungen Dale Smollet alles an. Den Stand hat sein Onkel Ted geführt, macht er sogar immer noch, dabei wird er bald siebzig. Es heißt, der Park geht einem ins Blut, man gibt ihn nie auf, egal wie alt man ist. Einen Ruhestand gibt’s nicht. Käme für Männer wie Ted überhaupt nicht infrage.«
Francesca sah sich das Dartscheibenrelief mit Pfeilen und Sternenkreis an und musste an das Foto denken, das sie Sean in der Redaktion gezeigt hatte. All die alten Männer und ihre Geheimnisse.
»Auch Männer wie Sie, Mr Rivett«, sagte sie. »Ich habe nicht das Gefühl, dass Sie so richtig im Ruhestand sind.«
»Ich verstehe, warum Sie Journalistin geworden sind«, erwiderte Rivett. »Aber ich weiß nicht, warum Sie hierhergekommen sind. Sie hatten doch eine gute Stelle in London, hab ich gehört, bei einer Tageszeitung. Warum gibt eine intelligente und, wenn ich das sagen darf, attraktive Frau wie Sie das alles auf und nimmt einen Posten in einem verschlafenen Städtchen wie diesem an?«
»Ich mag Herausforderungen«, erwiderte Francesca mit einem Lächeln. »Wie Sie auch, nehme ich an. War Dale Smollet Ihre Herausforderung, Mr Rivett? Haben Sie ihm auf dem Weg vom Vergnügungspark zum Detective Chief Inspector geholfen?«
Rivett wippte auf den Füßen vor und zurück, weil er hoffte, dass das die Durchblutung fördern und die Schmerzen lindern würde.
»Ich sehe das Potenzial eines jeden Menschen, Miss Ryman«, sagte er. »Deshalb bin ich so ein guter Polizist. In vieler Hinsicht ähneln sich unsere Berufe doch, nicht wahr? Wir sammeln alle Informationen darüber, wie es hier so läuft, und dann formen wir daraus ein ordentliches, ehrenwertes Bild derStadt. Alles andere wäre schlecht fürs Geschäft. Und das dürfen wir nicht zulassen.«
Das Lächeln verschwand von Francescas Lippen.
*
»Smollet und Rivett stecken unter einer Decke«, brach es schließlich aus Noj heraus. »Schon immer.«
»In welcher Hinsicht?«, fragte Sean. Verschiedene Ereignisse spielten sich vor seinem inneren Auge ab. Der Anruf, den Smollet im Büro angenommen hatte, dann sein überhasteter Abgang – das passte in den Zeitrahmen von Francescas Interview. Und wenn Rivett sie abgefangen hatte, trafen sich die beiden Polizisten vielleicht gerade.
»Die haben Corrine die Sache angehängt!«, klagte Noj. »Sie war nur der Sündenbock! Und wenn Sie die jetzt nicht kriegen, ist Ihre Freundin als Nächste dran, und die Person, die Sie wirklich suchen, kommt ungeschoren davon.«
»Die Person, die ich wirklich suche?« Sean schaute das seltsame Wesen neben sich an, das er erst seit ein paar Stunden kannte. Er dachte an den DNA-Treffer, war sich aber absolut sicher, dass der Biker nur eine falsche Fährte war, auf die Rivett ihn bringen wollte. Ein neuer Sündenbock. Wenn er das glauben wollte, musste er sichergehen, dass Noj sich nicht nur alles ausdachte, weil sie nach zwanzig Jahren auf Rache für irgendetwas aus war, dass sie ihn wirklich zum Täter führen konnte. Wie unwahrscheinlich sich das auch anhörte.
»Okay.« Er zog einen frischen DNA-Test aus der Jackentasche. »Wenn Sie mir nur eben zeigen würden, dass ich Ihnen vertrauen kann. Dauert nur eine Sekunde, dann können wir los.«
*
»Hier draußen wird’s langsam kalt, was?«, sagte Rivett. »Warten wir lieber im Büro auf ihn. Er hat gesagt, er ruft uns dort an, wenn er losfährt.«
Er blieb vor der Tür zum Turm stehen, gab wieder eine Zahlenfolge ein und ging hinein. Die Lobby wurde von Neonröhren beleuchtet. Der Boden war mit rotem Teppich ausgelegt, und am Ende befand sich eine Stahlwand mit einem Lift.
»Jetzt geht’s in die Penthouse-Suite«, erklärte Rivett. »Wo alle Geheimnisse verwahrt werden.«
36
DER HIMMEL ERLISCHT
Juni 1984
»Corrine? Was ist denn los?«
Lizzys Stimme kam erst einige Sekunden später bei Corrine an. Sie drehte sich langsam um, weil sie das Buch nicht aus den Augen lassen wollte.
»Kann ich mal ’nen Moment vor die Tür?«, fragte sie und fasste
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