Opfer
erblasstem Gesicht sprach der Schock. Amanda ließ ihren Arm los. Sie hatte einen Kloß im Hals und bekam nichts mehr heraus.
»Mum!« Sams Stimme wurde hysterisch. »Was soll das heißen? Sag’s mir!«
Aber Amanda konnte sich nur noch auf das Bett ihrer Tochter fallen lassen und tränenüberströmt den Kopf schütteln.
»Nein«, krächzte Sam und sah auf Amanda hinab, die heftig zitterte.
»Nein!«, schrie sie, rannte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, während Amanda auf dem Bett von Krämpfen geschüttelt wurde und die Schmerzen in ihrem Bauch einsetzten. Sie hörte es unten scheppern und krachen, als wäre ein Derwisch losgelassen worden. Die Schreie verflossen zu einem schrillen Klagegeheul. Dann schlug mit schockierender Endgültigkeit hinter ihr die Tür zu.
*
Corrine sah von gegenüber zu, wie der Arzt an der Tür mit Maureen redete. Zu Corrines Erleichterung lächelte Mrs Carver, als sie zurück ins Haus ging. Das hieß, es war nichts allzu Schlimmes, sonst hätten sie Debbie ja im Krankenwagen abtransportiert. Wohl nur den Magen verdorben, dachte Corrine, als sie die Vorhänge zuzog und sich aufs Bett fallen ließ. Sie nahm ihre Schultasche und schüttete sie auf der Tagesdecke aus.
Sie durchwühlte die Bücher, Stifte und Radiergummis und runzelte die Stirn. Dann schaute sie noch einmal in die Tasche, für den Fall, dass sich der dicke Ledereinband doch noch darin versteckte. Panisch schaute sie auf dem Altar nach und unter dem Bett. Sie kippte alle ihre Schubladen aus, bis der ganze Boden mit Klamotten bedeckt war. Als sie noch einmal die Tasche durchsuchte, traten ihr Tränen in die Augen.
Es war nicht mehr da . Sie hatte es auf jeden Fall am Morgen mit in die Schule genommen. Dort, wo Gina es finden konnte, ließ sie es nämlich nie liegen.
Aber heute war kein normaler Tag gewesen. Sie hatte den ganzen Nachmittag keinen Unterricht gehabt und hatte ihre Bilder aufgehängt. Da hatte sie die Tasche wohl eine Zeitlang unbeaufsichtigt im Kunstraum liegen lassen.
Und jetzt war die Ars Goetia weg. Corrine ließ sich wiederaufs Bett fallen. Sofort hatte sie ein spöttisches Gesicht mit schiefem Schneidezahn vor Augen. Sam hatte heute zum ersten Mal seit dem Tag beim Friseur wieder mit ihr geredet. Sie hatte sich von ihr verabschiedet und dabei gegrinst, als ob sie etwas wüsste, wovon Corrine keine Ahnung hatte. Dann hatte sie ihre Tasche über die Schulter geworfen, ihr zugezwinkert und albern gewunken.
Eine eiskalte Angst durchfuhr Corrine.
*
Mit trockenem Mund und von der ungewohnten Schlafposition steifem Hals schreckte Wayne auf. Er musste sich erst orientieren und verstand nicht gleich, was der seltsame Geruch, das Dämmerlicht und das elektronische Piepsen bedeuteten. Dann erinnerte er sich plötzlich wieder an alles – wie er in das verwüstete Haus gekommen war, in der Küche alles ausgekippt, als wäre jemand eingebrochen. Wie Amandas Schreie ihn nach oben zu Samanthas Bett geführt hatten, wo sie sich die Seele aus dem Leib schluchzte, sich den Bauch hielt und eine Blutlache um sie herum in die Decke sickerte. Dass er schon gewusst hatte, dass es zu spät war, als sie noch nicht mal in der Notaufnahme waren. Sie hatten ihre kleine Tochter verloren.
Amanda schlief neben ihm im Krankenhausbett. Ihr Gesicht sah absolut friedlich aus, was sich ändern würde, sobald sie aufwachte. Sie hatten ihr starke Beruhigungsmittel geben müssen.
»Alles meine Schuld«, hatte sie immer und immer wiederholt.
Er hatte Panik bekommen und solche Angst um sie gehabt, dass er an nichts anderes hatte denken können. Aber jetzt, im Friedhofslicht des Krankenhauszimmers in der Einsamkeit um vier Uhr morgens, blitzte ein Gesicht vor seinen Augen auf.
Samantha . Wo war sie?
*
Corrine fegte die Haare vom Boden auf, als würde sie sich durch einen Traum bewegen. Sie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können. Sie hatte Noj angerufen, aber seine Mum war drangegangen und hatte ihr nur gesagt, dass John unterwegs sei und sie nicht wisse, wann er wiederkommen würde. Also hatte sie stundenlang an der Promenade die Toiletten gegenüber vom Pier abgeklappert, aber eigentlich gewusst, dass sie ihn nicht treffen würde. Kurz bevor sie zur Arbeit musste, war sie nach Hause geschlurft und hatte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht gespritzt, damit sie bei der Arbeit vorzeigbar aussah. Von unten hatten laute Musik und grölende Männer heraufgedröhnt. Ihre Mutter hatte wieder Besuch.
Sie musste immer wieder an
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