Opfer
Francesca ihm vor dem griechischen Restaurant erzählt hatte, dass früher im Tollhouse der Hexerei bezichtigte Frauen gefoltert worden waren.
»Zu unserer Zeit«, setzte sie fort, »trug er einen anderen Namen: Detective Inspector Leonard Rivett.«
Sean starrte sie an.
»Deshalb sind Sie doch hier, oder?«, fragte sie. »Wegen Corrine.«
Sean bekam einen trockenen Hals. Er nickte.
»Dann bin ich die Person, die Sie suchen«, erklärte sie und ging los.
Sean folgte ihr und fragte sich, was er da gerade tat? Sie ging schnell, und er kam ins Schwitzen, obwohl der kühle Nachtwind vom Fluss ihm das Metall in den Knochen gefrieren ließ.
Sie ging am Buchladen vorbei, bog links in die nächste Gasse ein und am Ende rechts auf einen kleinen Platz, wo unter einer Baumgruppe die Ruine eines alten Kreuzgangs stand.
»Warten Sie bitte mal kurz«, bat Sean.
Irgendetwas war mit den Bäumen, wie die Laternen durch die kahlen Äste schimmerten. Als wäre er wieder in Meanwhile Gardens …
»Was denn?«, fragte sie.
Sean versuchte, das Déjà-vu abzuschütteln.
»Die alte Kriegsverletzung, von der ich Ihnen erzählt habe«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich komm nicht mit.«
»Wir sind doch schon da«, erklärte sie, zog den Schlüssel aus der Tasche und nickte auf das zweistöckige Haus am Ende der Zeile. »Kommen Sie mit hinein. Ich möchte diese Dinge nicht hier draußen besprechen, hier haben die Wände …«
»Augen und Ohren«, vollendete Sean den Satz für sie.
»In der Tat.« Sie nickte und drehte den Schlüssel um.
Sean zögerte auf der Türschwelle. Er ließ sie vorgehen und das Licht anschalten, weil er plötzlich Angst hatte, von einer Abordnung von Swing’s-Stammgästen empfangen zu werden, die ihn lynchen wollten, vielleicht würde sogar Francesca dabeisitzen, ins Gelächter einstimmen, ihn zum Tollhouse schleifen und ihn in Fußeisen legen …
Fußeisen . Er musste lachen – Eisenbeine hatte er ja schon. Er sah einen normalen Flur mit cremefarbenen Wänden und beigefarbenem Teppich, eine akkurate Reihe von Kleiderhaken an der Wand und eine Tür zu einem Raum, der auf den ersten Blick aussah wie eine Zahnarztpraxis. Er ging vorsichtig hinein und merkte, dass der Kippstuhl und die Utensilien zu einem Tätowierstudio gehörten, die Wand gegenüber hing voll mit Fotos vollendeter Arbeiten. Keltische Knoten und Flechtmuster, Tribal-Totems, Kringel und Wirbel, Blumen und Pfauenfedern, die Horror-Bildsprache der jugendlichen Außenseiter.
»Damit verdienen Sie also Ihr Geld«, dachte er laut und sah zum zweiten Mal an diesem Tag Bullys Irokesenschnitt, diesmal auf einem Foto an der Wand.
»Das Haus bezahlt sich nicht von selbst ab«, erwiderte sie, und ihr Blick sprang von der Fotowand zu ihm und wieder zurück. »Aber kommen Sie doch mit in die Küche, da haben wir’s gemütlicher.«
Sean war überrascht, wie altmodisch sie eingerichtet war: Kiefernholztisch, rote Keramikteekanne und dazu passende dickwandige Becher – so etwas hatte er wirklich nicht erwartet.
»Möchten Sie einen Tee?«, fragte sie, als sie seinen Blick bemerkte.
»Sehr gerne«, sagte Sean.
»Setzen Sie sich.« Sie deutete auf einen Stuhl und ging mit dem Wasserkocher zur Spüle. Seans Augen schweiften durch den Raum, als sie das Wasser aufdrehte. Auf der Fensterbank vor ihr standen zwei Grünlilien. Die Spüle war aus Edelstahl, die Arbeitsplatten aus weißem Resopal. Ein Elektroherd mit vier Platten, ein weißer Kühlschrank, weiße Fliesen an allen Wänden außer der Zwischenwand, die blassblau gestrichen war, und an der ein gerahmtes Aquarell einer Meerlandschaft hing. Hinter einer zweiflügligen Fenstertür stand ein Körbchen mit zwei Näpfen daneben. Von den roten Haaren auf dem Polster zu schließen, gehörte es wohl einer Katze. Alles war sauber und ordentlich, sah aber nicht allzu teuer aus. Außer vielleicht das Gemälde, das seinen Blick wieder anzog.
»English Breakfast?«, fragte seine Gastgeberin.
»Bitte«, erwiderte Sean und wandte sich zu ihr um.
»Hab ich mir doch gedacht«, sagte sie. Unter der Neonröhre an der Decke konnte er sie jetzt besser sehen, ihr Alter aber immer noch nicht so recht einschätzen.
Das Wasser kochte, und sie füllte die Teekanne. Sie holte Milch aus dem Kühlschrank und stellte sie vor Sean auf den Tisch. Ihre Leopardenjacke legte sie erst ab, nachdem sie die Kanne, zwei Tassen und eine Zuckerschale auf den Tisch gestellt hatte.
Ansonsten trug sie nur schwarz –
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