Opfer
Diktaphon. »Ich muss mich auch langsam auf den Weg machen, ich hab um sechs noch einen Termin. Wir haben nichts ausgelassen, glaube ich.« Er hielt inne, bevor er das Gerät abschaltete. » Ach, eine Frage hab ich doch noch.«
»Ja?« Sheila hatte den Kopf auf die rechte Hand gestützt und lächelte schwach.
»Wie hat Francesca Sie eigentlich gefunden?«
Sheila runzelte die Stirn. »Über ihren Vater natürlich.«
»Ihren Vater?« Sean war sichtlich verwirrt.
»Philip«, erwiderte Sheila. »Philip Pearson. Sie wissen schon, Corrines alter Klassenlehrer.«
Sean riss die Augen auf. »Das hat sie mir nie gesagt.«
Sheila biss sich auf die Lippe. »Ach. Dann …«
»Jetzt versteh ich das Ganze erst«, unterbrach Sean sie. »Philip Pearson wendet sich damals an die überregionale Presse, erzählt die unliebsame Wahrheit über Ernemouth und wird dafür von der Schule geekelt. Sie versuchen dasselbe bei der Regionalzeitung, und verlieren auch ihre Stelle. Wie alt war Francesca damals? Zehn? Elf?«
»So um den Dreh …« Sheila zögerte und legte die Stirn in Falten.
Sean hielt das Diktaphon an und zwang sich zu einem Lächeln.
»Keine Sorge, Mrs Alcott, ich bin ja nicht …« Fast hätte er Len Rivett gesagt. »Ich bin nur bisher nicht so ganz schlau aus ihr geworden. Francesca hat mir sehr geholfen, und ich hab mich gefragt, ob sie irgendwelche Hintergedanken hat. Mein Job macht mich manchmal ein bisschen misstrauisch, müssen Sie wissen. Deshalb ist sie also Journalistin geworden …«
»Sie war auch ziemlich erfolgreich«, erklärte Sheila, »bis ihre Mutter krank wurde.«
Sean ließ sein Gespräch mit Nora Linguard am Morgen Revue passieren. Wirklich traurig, Mrs Pearson ist vor Kurzem gestorben. War erst Mitte fünfzig. Krebs …
»Francesca ist zurückgekommen, um sie zu pflegen«, sagte Sheila. »Aber eigentlich brauchte Philip sie viel dringender. Deshalb hat sie ihren Job in London und ihre Ehe aufgegeben …«
Sheila schlug sich die Hand vor den Mund. »Tut mir leid, das hätte ich nicht erzählen sollen, das ist doch viel zu privat.« Ihr Blick wurde entschlossener. »Aber so ist das mit Francesca. Wenn ich bloß so stark gewesen wäre wie sie. Für mich war es eine Fügung des Schicksals, dass Sid Hayles dann gestorben ist und sie seinen Posten bekam.«
Ihre Züge wurden wieder weicher. »Deshalb hat sie es Ihnen nicht erzählt.« Sheila tätschelte Sean die Hand. »Sie wollte nicht, dass Sie glauben, Sie wolle irgendetwas anderes als die Wahrheit herausfinden. Keiner von uns hätte gedacht, dass die Sache jemals wieder aufgerollt wird, müssen Sie wissen. Wir hatten geglaubt, wir würden das alles mit ins Grab nehmen.«
»Was ist denn die Wahrheit, Mrs Alcott?« Sean starrte ihr in die Augen. »Sie und Francesca haben mich ja überzeugt, dass Corrine Woodrow nicht die Mörderin ist, und die Beweise schienen das zu bestätigen. Aber wenn nicht sie, wer dann?«
Die Angst trat Sheila in die Augen. Sie schaute aus dem Fenster, wo das graue Zwielicht des Nachmittags langsam zur Nacht wurde.
»Das ist die eine Sache, die ich Ihnen nicht sagen kann.«
*
Rivett war immer noch am Telefon, als Damon mit dem Tee zurückkam. Er blieb vor dem Zimmer stehen und horchte nach der Hintertür und den Schritten seiner Mutter auf der Treppe. Im Laufe des Nachmittags war das Rumoren in seinem Magen noch schlimmer geworden, während er darüber nachdachte, was er getan hatte. Wegen eines dummen Fehlers als Jugendlicher hatte Rivett einen Gefallen nach dem anderen von ihm eingefordert.
Bis gestern hatte Damon geglaubt, das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass Rivett seiner Mutter das Video zeigte. Aber jetzt war ihm klar geworden, dass er sich in etwas viel Gefährlicheres verwickelt hatte.
»Genau, Andy«, hörte er Rivett durch die Tür. »Wie letztes Mal, die Alcott, die verrückte, alte Bäuerin … Nein, hat sie nicht und wird sie wohl auch nie … Tja, bei all den rostigen Gerätschaften, die da herumstehen, passiert eben mal ein Unfall …«
Erst als er hörte, wie Rivett den Hörer schwungvoll auf die Gabel schlug, traute er sich, die Tür zu öffnen.
Rivett drehte sich um und lächelte zu Damon hinauf. »Kannst du mir das hier alles bitte auf so ein Ding ziehen?«, bat er. »Speicherstick, oder wie die heißen.«
»Klar«, erwiderte Damon, stellte die Teetassen vor Rivett auf den Tisch und kämpfte gegen die Übelkeit an, als er zum Aktenschrank ging.
Mein ganzes Leben ist abgespeichert ,
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