Opfere dich
machen zu können und einen stichfesten Beweis zu haben.“ Dafür mussten sie ihn erst einmal fassen. Auf Indizien wollte sie sich nicht verlassen. Dafür war dieser Fall zu brisant.
Malcolm klang leicht genervt, da er sie aufbauen wollte, ihm das jedoch nicht gelang. „Jedenfalls stimmen die Fingerabdrücke aus der Wohnung mit denen auf dem Diktiergerät, das wir im Isle-Royale-Nationalpark gefunden haben, überein.“
„Sonst noch etwas?“, fragte Storm bibbernd. Sie ließ die Zigarette fallen und drückte sie mit der Schuhsohle aus. „Es ist kälter, als ich gedacht hatte. Der Sturm hat frische Luft gebracht. Es will einfach nicht Frühling werden.“
„Bist du schlecht gelaunt?“
„Tut mir leid“, entschuldigte sie sich und trat von einem Fuß auf den anderen, weil die Kälte ihre Beine hochkroch. „Ich bin einfach nur müde und ausgelaugt.“ Und ein klitzekleinwenig angetrunken, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie schmunzelte, weil ihr einfiel, was ihre Mom immer zu ihr gesagt hatte, als sie als Kind nicht ins Bett wollte. Auch Helden brauchen Schlaf. Teresa und Jasper waren nie die perfekten Eltern gewesen, aber um Längen besser als die Eltern von Darragh. Storm nahm sich vor, geduldiger mit ihnen zu sein.
Malcolm hatte Verständnis. Wahrscheinlich war er genauso erschöpft wie sie. „Dann mache ich es kurz. Die Ärzte im Krankenhaus haben Philomena Priest gründlich untersucht und eine Thallium-Vergiftung festgestellt. Ihr wurden über einen langen Zeitraum hinweg geringe Dosen verabreicht, was darauf schließen lässt, dass sie absichtlich vergiftet worden ist.“
„Warum nicht eine große Menge geben, um sie schnell loszuwerden?“, überlegte sie laut.
„Um sie für etwas leiden zu lassen“, antwortete er hypothetisch, „oder um die Vergiftung zu vertuschen. Die ersten Symptome sind zu allgemein: Durchfall, Verstopfung, Haarausfall …“
„Ein Arzt hätte folglich nicht sofort auf Vergiftung geschlossen.“
„Später kommt es zu Sehstörungen, Schmerzempfindlichkeit, Herzrhythmusstörungen bis hin zu Lähmung der Hirnnerven und zu Muskelschwund.“ Malcolm schien die Symptome irgendwo abzulesen.
„Vielleicht hat Mrs. Priest sich zu dem Zeitpunkt geweigert, einen weiteren Arzt zu konsultieren, weil sie den Glauben an die Medizin bereits verloren hatte“, vermutete Storm. „Oder Darragh hat sie isoliert. Er hatte vergeblich um die Zuneigung seiner Mutter gekämpft, und nun, da sie krank war, besaß er endlich ihre ganze Aufmerksamkeit.“
„Die Ärzte haben eine Magenspülung durchgeführt, ein Abführmittel gegeben und Eisenhexacyanoferrat –“
„Was?“ Storm nervte es, wenn jemand Fachchinesisch sprach.
„Berliner Blau“, erklärte er. „Es bindet das Thallium im Darm, so dass es ausgeschieden werden kann. Aber die Vergiftung ist bei Mrs. Priest fortgeschritten, und die neurologischen Schäden sind irreversibel.“
Storm bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie kein Bedauern empfand. Sie wünschte niemandem einen qualvollen Tod, aber zusammen mit dem Gedanken daran, dass Philomena Priest möglicherweise ihren Sohn sein ganzes Leben lang tyrannisiert hatte, wollte sich kein Mitleid bei ihr einstellen. „Ich glaube, Mutter und Sohn verbindet eine Art Hassliebe: Deshalb hat er ihr nicht einfach nur die Kehle durchgeschnitten. Er konnte es nicht, sonst hätte er die Wut auf seine Mutter nicht an fremden Frauen abreagiert.“
„Das erörtern wir morgen“, sagte Malcolm zum Abschied.
„Oder befragen ihn selbst. Gute Nacht.“ Sie legte auf und steckte ihr Handy in ihre Jackentasche zu den Lucky Strikes. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie noch eine Zigarette rauchen sollte – auf Vorrat sozusagen, da sie im Haus ja nicht durfte –, ließ es dann aber bleiben, weil eine frische Brise vom Michigansee her wehte. Zog ein zweiter Sturm auf? Hatte es nicht gerade in der Ferne geblitzt? Sie hoffte, dass das nahende Gewitter ein Zeichen für einen Wetterumschwung war und warme Luft ankündigte.
Storm zog die Decke enger um ihre Schultern und schlenderte über den Steg zurück in den Garten. Plötzlich stellte sich ihr jemand in den Weg. Ein massiger Schatten baute sich vor ihr auf. Die Konturen zeichneten sich scharf vor dem erleuchteten Haus ab. Nur langsam nahm Storm die Gesichtszüge des Mannes wahr. Er trug einen Bart. Mit seiner schwarzen Lederjacke und der dunklen Jeans sah er tatsächlich wie ein Schatten aus.
Sie versuchte, rasch an ihm vorbeizugehen, doch
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