Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
damals so um die siebzehn Jahre alt, das Mädchen vierzehn.«
»Was heißt ›angegriffen‹ ? «
»Sie haben sie auf dem Weg gepackt und in den Wald gezerrt.«
»Haben sie sich an dem Mädchen vergangen?«
»Nein. Sie hätten es vielleicht. Wahrscheinlich. Aber das Mädchen hat sich heftig gewehrt, und ein paar Spaziergänger waren im Wald unterwegs und haben ihre Schreie gehört. Das alles ist nicht weit von der Ruine Rodenstein entfernt passiert. Vielleicht achthundert Meter Luftlinie.«
»Rodenstein?«
»Der Rodenstein ist eine Burgruine aus dem dreizehnten Jahrhundert. Heute sind dort nur noch ein paar Mauern zu sehen. Aber es gibt viele Sagen und Legenden rund um die Burg.«
»Und was geschah mit dem Mädchen?«
»Die Spaziergänger gingen in Richtung des Lärms, fingen ihrerseits an zu schreien. Da ließen die vier von dem Mädchen ab. Sie rannte weg. Die vier Jungs auch.«
»Niemand hat sie gesehen?«
»Nein. Nicht von Angesicht zu Angesicht.«
»War das Mädchen verletzt?«
»Nein. Ein paar Kratzer durch das Gebüsch im Wald. Aber nicht mehr.«
»Und woher wissen Sie, dass es das Quartett war?«
»Ganz einfach. Es gab zwei Alphatiere unter den Jungs: Till Hansen war die Nummer eins. Was er sagte, war Gesetz. Er hatte einen Stellvertreter, das war Emil Sacher. Und dann gab es die beiden Befehlsempfänger Richard Wölzer und Philipp Kaufmann. Wobei Philipp der war, der noch am meisten Gewissen an den Tag legte und sehr gut zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte. Er war es, der mich ansprach. Zunächst im Vertrauen. Der mir gegenüber eingestanden hat, dass er und die drei anderen das Mädchen im Wald gepackt und ins Gebüsch geschleppt hätten. Die offizielle Version war die, dass die Jungen dem Mädchen nur hatten Angst machen wollen. Nun, ich denke, dass das nicht ganz der Wahrheit entsprach. Ich riet Philipp, dass sich die vier stellen sollten, zumindest dem Direktor gegenüber. Die Polizei untersuchte den Fall bereits, und es würde ihnen sicher zugutekommen, wenn sie sich freiwillig stellten. Sie taten es tatsächlich. Die Konsequenz war, dass zwei von ihnen von der Schule genommen werden sollten. Ich setzte mich vehement dafür ein, dass sie bleiben durften, aber die Eltern ließen nicht mit sich reden.«
»Waren die Jungs sauer auf Sie?«
»Die waren sauer auf Philipp. Aber in einem Gespräch mit allen vieren habe ich versucht, ihnen klarzumachen, dass Philipp richtig gehandelt hatte. Alle vier bekamen Strafen.«
»Wie, Strafen? Ist Picht nicht sofort zur Polizei gegangen?«
»Nein. Wir haben das intern geregelt.«
»Das heißt, dass das Mädchen nie erfahren hat, wer ihr das angetan hat?«
»Doch. Die Eltern wurden zu einem Gespräch gebeten. Und ihnen wurde eine großzügige Abfindung angeboten, wenn sie sich dazu entscheiden sollten, keine Anzeige zu erstatten.«
»Hallo?«
»Ja. Sie bekamen so viel Geld, dass für die Tochter die beste Ausbildung gesichert war.«
»Ohne dass gegen einen der vier Anklage erhoben worden wäre?«
»Ja. Ohne dass die vier eine Bewährungsstrafe ohne echte Konsequenzen bekommen hätten. Und es dem Mädchen so dreckig gegangen wäre wie zuvor. Es war nichts passiert. So zynisch es klingen mag: Hätten die Spaziergänger das Mädchen zehn Minuten später gehört, hätte es sicher Schmerzensgeld gegeben. Aber eben auch die Schmerzen, die dem Mädchen so erspart worden waren.«
Margot schluckte. Und sie merkte, dass nicht nur der Hunger gestillt war, sondern ihr wieder schlecht wurde. Und diesmal hatte Rainer nicht das Geringste damit zu tun. »Und Sie haben das mitgetragen? Ich meine – Sie waren der Religionslehrer.«
»Wir haben die Schüler bestraft.«
»Wie sahen die Strafen aus?«
»Ich erinnere mich nicht mehr an Details. Aber es waren soziale Strafen. Mülldienst, Kehrdienst, solche Sachen. Wie Arbeitsstunden, die auch vom Gericht verhängt worden wären.«
»Das heißt Hof kehren statt offizieller Ermittlung? Nochmals – Sie waren Religionslehrer. Gerechtigkeit und so. Fanden Sie das gut?«
»Ja. Ich fand das gut, denn ich war ein feiger Religionslehrer. Ich habe mir eingeredet, dass es eine gute Idee wäre, die vier innerhalb unseres Internats zu disziplinieren. In Wirklichkeit hatte ich Angst um meinen Job. Ich habe nach dem Studium an einem staatlichen Gymnasium unterrichtet. Dann habe ich mich mit meinem Bischof überworfen. Mir wurde die Lehrbefähigung entzogen – das heißt, offizieller Unterricht an einer staatlichen
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