Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
biss ich zu. Er zog die Hand zurück, und wir brüllten beide.«
Ruth Steiner lächelte. »Wenn ich das so erzähle, klingt das mit dem Finger witzig. Aber ich hatte Todesangst. Nein, ich glaubte nicht, dass sie mich umbringen würden. Aber ich wusste, dass sie mich vergewaltigen wollten.
Kaum war die eine Hand weg, hatte ich die nächste vor dem Mund. Aber der, dem ich in die Hand gebissen hatte – Emil Sacher –, der konnte mich nicht mehr festhalten. Ich trat wieder um mich und konnte auch dem anderen in die Hand beißen. Dann kreischte ich wie verrückt. Irgendwann hörte ich andere Menschen schreien. Und dann rannte ich nach Hause.«
»Es gab nie eine polizeiliche Verfolgung, oder?«
»Nein, gab es nicht. Ich sprach zuerst mit niemandem. Ich habe später erfahren, dass ein Spaziergängerpärchen das Ganze mitbekommen hatte, sie waren es wohl, die geschrien haben. Aber die Jungs sind weggerannt, genau wie ich – es war keiner mehr da, als das Paar an den Ort kam, an dem es passiert ist. Etwa eine Woche danach kam der Direktor des Internats zu meinen Eltern. Und er wollte die Angelegenheit intern regeln. Ich habe erst Jahre später erfahren, dass mein Studium mit dem Geld finanziert worden ist, das das Internat als Schweigegeld gezahlt hat. Oder die Eltern der Jungs, was weiß ich.«
»Und Ihnen hat es nichts ausgemacht, dass die Jungen keine Strafe bekamen?«
»Oh, sie bekamen ihre Strafe. Das wurde im Internat geregelt. Ich bin von meinen Eltern irgendwann mal dort hingeschleppt worden. Die Jungen haben sich bei mir entschuldigt. Mit Händedruck und Krokodilsträne. Zumindest dieser Philipp Kaufmann. Der sah zu Boden, dem war das unangenehm, und ich denke, er war der Einzige, der wirklich das Gefühl hatte, etwas falsch gemacht zu haben. Wölzer, der hat mich nicht angesehen. Sacher, der war wütend, weil er einen fetten Verband an der Hand trug. Und Hansen – dessen Blick war eiskalt. Er war der Einzige, vor dem ich wirklich Angst gehabt hatte.«
»Sind Sie danach je wieder in den Wald gegangen?«
»Ja. Ich hatte nach kurzer Zeit das Gefühl, dass mir nichts mehr passieren könnte. Die vier – die würden vielleicht jede andere ins Gebüsch zerren, aber nicht mehr mich. Komisch, dadurch, dass ich sie angesehen habe, sie sich entschuldigt hatten – wie aufrichtig auch immer –, dadurch war der böse Bann gebrochen. Ich glaube, es ist viel schlimmer, wenn man nicht weiß, wer einem etwas angetan hat. Na ja, wie auch immer. Das war die Geschichte. Und ich habe danach gehört, dass Hansen und Wölzer das Internat verlassen haben.«
»Noch irgendetwas, an das Sie sich erinnern?«
»Nun, seit mir Wölzer auf dem Vortrag begegnet ist, kamen wirklich noch Erinnerungen hoch. Zum Beispiel ist mir wieder eingefallen, dass Hansen, kurz bevor die vier mich packten, so etwas gesagt hat wie: ›Greift die Hexe!‹ Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich es richtig verstanden habe, und weiß auch gar nicht, was er damit gemeint haben könnte. Schließlich kannte mich ja keiner von denen.«
Margot erinnerte sich hingegen, was Religionslehrer Wuttke am Morgen gesagt hatte: Die vier hatten sich auch mit dem Thema Hexen auseinandergesetzt. Wenn man Ruth Steiner glauben durfte, offensichtlich nicht nur theoretisch.
»Frau Lutter, wir haben Sie hergebeten, weil wir noch mal genau wissen müssen, wie das war in der Nacht, als Ruth Steiner Sie besucht hat, am Freitag vor zwei Wochen.«
»Aber das habe ich doch dem Polizisten damals schon erzählt. Und Ihnen vorgestern noch mal.«
Horndeich brauchte kein Psychologiestudium, um zu erkennen, dass Silvia Lutter nervös war. »Nun, Sie sagten, Ruth Steiner hätte bei Ihnen übernachtet.«
»Ja.«
»Weil Sie beide schon Wein getrunken hatten.«
»Ja.«
»Wann genau ist sie denn nach Hause gefahren?«
»Irgendwann nach neun. Um zehn macht sie ja ihren Laden auf.«
»Hmmm«, machte Horndeich und bemühte sich, es möglichst bedeutungsschwanger klingen zu lassen. »Eine Zeugin sagte, dass der Wagen um zwei Uhr nachts dort gestanden habe – aber nicht mehr um sechs Uhr morgens.«
»Dann muss die Zeugin sich irren.«
»Das hat Ruth Steiner auch gesagt, als ich ihr das erzählt habe. Das Dumme ist nur, dass die Zeugin sich nicht geirrt hat. War es vielleicht doch ein wenig anders, als Sie es uns erzählt haben?«
»Nein. Ruth war die ganze Nacht bei mir. Hat auf dem Sofa geschlafen.«
»Hmmmm.« Horndeich war heute gut im Hmmmmen. Denn langsam wich die gesunde
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