Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
Glauben oder die Rituale exakt definiert. Zwar hat jede Gruppe ihr eigenes ›Buch der Schatten‹ – aber keines der Bücher gleicht einem anderen. Dadurch wird diese Glaubensrichtung oft als völlig beliebig angesehen: Tu, was du willst. Aber immer in Einklang mit der Natur und ›dem Guten‹.«
»Also keine Rache für erlittenes Leid der Vorfahren?«
»Im Namen einer Wicca-Gruppe sicher nicht. Ob jemand das aus eigenem Antrieb macht – das ist eine Frage, die nur individuell und von einem Psychologen beantwortet werden kann.«
Margot schwieg. Also nahm Horndeich den Faden wieder auf. »Hier in Darmstadt gab es auch Hexenverbrennungen?«
Judith Reichenberg nickte. »Ja. Im Verhältnis zu anderen Teilen Deutschlands war es wohl eher überschaubar. Unter dem ersten Landgrafen von Hessen-Darmstadt kam es zwischen 1586 bis 1590 zu zwanzig Hexenverbrennungen. Weitere fünfzehn wurden nur gefoltert, konnten aber fliehen oder wurden wieder freigelassen.«
»Wo wurden die Menschen verbrannt?«
»Frauen. Bis auf einen elfjährigen Jungen waren es alles Frauen. Ich will damit natürlich nicht sagen, dass es besser ist, einen Jungen zu verbrennen.«
»Wo?«
Judith Reichenberg deutete in Richtung Süden. »Auf dem Marktplatz. Gefoltert wurde zuvor im Rathaus.«
Horndeich fröstelte, obwohl es im Raum kaum weniger heiß war als im Freien. Auf dem Marktplatz, auf dem er jeden Samstag Biogemüse, Käse und Antipasti kaufte, waren also einstmals Menschen verbrannt worden. Er schluckte.
Margot sah auf, und Horndeich kannte den Blick. Es war der »Ich-hab’s«-Blick. »Was waren die anderen Methoden, mit denen man von diesen Frauen Geständnisse erpresste?«
»Sie sind sicher, dass ich Ihnen das vor dem Mittagessen erzählen soll?«
»Wurden den Frauen die Daumen zerschlagen?«
»Jein. Nicht zerschlagen. Der Ausdruck ›Daumenschraube‹ sagt Ihnen sicher etwas?«
Margot nickte. Horndeich hatte sofort das Bild einer Mini-Saftpresse vor Augen. Er merkte, dass er genug hatte. »Wie kommt man dazu, sich mit so grauseligem Zeug auseinanderzusetzen?«, fragte Horndeich, obwohl ihm, bereits während er fragte, bewusst wurde, dass sein Job ja nun auch ab und an etwas unappetitlich werden konnte.
Judith Reichenberg antwortete ihm. »Wissen Sie, diese Verbrennungen und Folterungen – das war extremes Unrecht. Und ich habe zwei Gründe, mich mit dem Thema zu beschäftigen.«
Horndeich konnte nicht anders, als neugierig nachzufragen: »Welche?«
»Ich bin am 6. September 1972 auf die Welt gekommen. In München. Das war ein Tag, an dem auch ein extremes Unrecht geschehen ist.«
»Sie meinen die Geiselnahme der israelischen Sportmannschaft im Olympischen Dorf durch Palästinenser?«
»Ja. Und genau dort, im Olympischen Dorf, wurde ich geboren. Meine Mutter war Journalistin, sie berichtete von den Spielen. Sie war damals im achten Monat schwanger. Alle hatten gedacht, ich würde mir noch ein paar Wochen Zeit lassen. Aber es kam zu einer Frühgeburt. Um 22.38 Uhr, als die Polizei das Feuer auf die Terroristen eröffnete, setzten bei meiner Mutter die Wehen ein. Es gab ja damals Ausgangssperre wegen der Terroristen, wir mussten im Dorf bleiben. Aber es waren zum Glück Ärzte da. Es ging ganz schnell. Um 0.10 Uhr, als einer der Terroristen die Handgranate im Hubschrauber gezündet hatte, gab ich mein erstes Schreien von mir. Komischer Zufall, nicht wahr?«
Dem konnte Horndeich nur zustimmen.
»Und es gibt noch einen ganz persönlichen Grund: Mein Vater ist Pfarrer, und er hat sehr gründlich Ahnenforschung betrieben. Dabei hat er festgestellt, dass ich eine direkte Nachfahrin der Frau bin, die in Europa als letzte offizielle Hexe verbrannt worden ist: Anna Göldi. Und so bin ich beim Hexenthema gelandet.«
»Frau Reichenberg, herzlichen Dank«, sagte Margot und erhob sich.
Horndeich tat es ihr nach. Er war froh, diesen Folterkeller voller bedrohlicher Bücher verlassen zu dürfen.
Noch im Hinausgehen griff Margot zum Handy. »Marlock – bitte suchen Sie doch noch mal alles raus, was wir über den Fall Richard Wölzer haben. Und funken Sie die Kollegen aus Marburg an – ich bräuchte deren Akte zu dem Fall – danke!«
»Wer ist Richard Wölzer?«
»Ich glaube, das ist der dritte im Bunde.«
Sie verließen das Schloss. Horndeich wollte gerade den Wagen öffnen, als Margot sagte: »Wollen wir nicht noch einen Happen essen gehen?«
»Gern. Wo?«
»Ratskeller?« Das Restaurant mit einer eigenen kleinen Brauerei
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