Opfergrube: Kriminalroman (Darmstadt-Krimis) (German Edition)
ihrem Sessel auf. Die Frau war sehr zierlich, keine eins sechzig groß, fast schon dürr, sie hatte blondes schulterlanges Haar, das ziemlich dünn erschien, und eine lebendige Ausstrahlung.
Horndeich trat ein, nach ihm Margot. Die dunklen Regale wirkten bedrückend. War es möglich, dass man sich von Papierbergen bedroht fühlen konnte? Sofort fiel ihm Stephen King ein, der aus diesem Szenario sicher eine wundervoll gruselige Geschichte gesponnen hätte. Die hätte dann sicher mit Worten begonnen wie: »Bis Freitag wusste ich nicht, dass es Bücher gibt, die sich von Menschenfleisch ernähren.« Oder so ähnlich.
»Nehmen Sie doch bitte Platz« – das war der Satz, den Judith Reichenberg noch nicht gesagt hatte. Was daran lag, dass es keinen Platz gab. Sie nahm einen Papierstapel von einem der Stühle, sah sich suchend um und deponierte ihn kurzerhand auf einem anderen Stapel auf ihrem Schreibtisch. Der wuchs damit um das Doppelte auf eine Höhe von sicher achtzig Zentimetern. Margot war ebenfalls gut darin, Papier zu horten. Aber solch ein Chaos bedruckten Papyrus hatte Horndeich noch nie gesehen. Nun ja, nicht ganz nie. Vor Jahren hatten sie mal einen Fall gehabt, bei dem eine alte Dame ermordet worden war. Die war definitiv ein Messie gewesen, auch in Sachen Papier. Allerdings hatte sie es wenigstens in Kästen verpackt oder verschnürt.
Judith Reichenberg räumte den zweiten Stuhl auf die gleiche Weise leer.
»Nehmen Sie doch bitte Platz. Und entschuldigen Sie die leichte Unordnung.«
Margots Schreibtisch ging vielleicht noch als »leichte Unordnung« durch. Aber das hier ist eindeutig die Königsklasse von »leichter Unordnung« , dachte Horndeich.
»Ich bin gerade dabei, das Büro etwas umzuorganisieren. Leider habe ich es so übernehmen müssen. Meine Vorgängerin – nun, sie war nicht in der Lage, auch nur ein Blatt Papier wegzuschmeißen. Sie hatte vor einem Jahr einen schlimmen Unfall. Ein Lastwagen hat sie beim Rechtsabbiegen überfahren. Beide Beine hat sie verloren. Nun, seit einem Vierteljahr wissen wir, dass sie nicht mehr zurückkommen wird.«
Auch Margot schien angesichts der Papierflut ein wenig geschockt. Die beiden Polizisten setzten sich.
Horndeich sah sich um und wartete darauf, dass Margot das Wort ergreifen würde, doch das tat sie nicht. Sie war überhaupt ziemlich schweigsam, seit sie aus der Buchhandlung zurückgekommen war.
Also sprach Horndeich: »Frau Reichenberg, Sie haben in der Zeitschrift Luise vor einem Dreivierteljahr drei Artikel veröffentlicht – einen über die Hexenverfolgungen in Europa, einen über die Verfolgungen in der Region Darmstadt und einen über die sogenannten ›Neuen Hexen‹.«
»Ja, das stimmt. Was ist damit? Sind Sie von der Rechtschreibpolizei?«
Auch wenn Horndeich den Kalauer ziemlich lahm fand, schenkte er Judith Reichenberg ein Lächeln. »Nein, die Kollegen von der RSP kommen später noch vorbei.«
Nun war es an Judith Reichenberg, einen lahmen Witz mit einem strahlenden Lächeln zu quittieren. »Was kann ich für Sie tun?«
Horndeich überlegte kurz, wie sie weiter vorgehen sollten. Dann entschied er sich für die direkte Methode. Er nahm sein Smartphone aus der Innentasche seines Jacketts und zauberte ein Bild auf das Display. Die Fesselung von Emil Sacher. Er zeigte es der Wissenschaftlerin.
»Hui«, sagte die nur. »Ist das der Mann, den sie vorgestern aus dem Woog gefischt haben?«
Horndeich nickte und wischte über das Display. Dann zeigte er das zweite Bild, auf dem der malträtierte Rücken des Hamburger Opfers zu sehen war.
»Da Sie mich in meiner Eigenschaft als Expertin für die Hexenverfolgung aufsuchen, kann ich nur sagen: Ja. Das sind typische Merkmale der Folterung von Menschen, die der Hexerei verdächtigt werden. Vielmehr wurden. Gibt es ja heutzutage nicht mehr. Zumindest nicht in Europa.«
Nun meldete sich Margot zu Wort: »Könnte es sein, dass ein Zirkel der ›Neuen Hexen‹, also vielleicht ein Wicca-Zirkel, so etwas macht?«
Judith Reichenberg schüttelte den Kopf. »Nein. Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, ich dachte, vielleicht als späte Rache?«
»Das halte ich für ausgeschlossen. Man kann zu den ›Neuen Hexen‹ stehen, wie man mag – aber Gewalttätigkeit ist definitiv eine Eigenschaft, die überhaupt nicht auf diese Bewegung zutrifft. Im Gegenteil, sie ist extrem tolerant.«
»Tolerant?«
»Ja. Im Gegensatz zu den klassischen Religionen gibt es keine Bibel oder ein ähnliches Schriftwerk, das den
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