Opferlämmer
unmöglich, genau wie zuvor bei dem Netz von New York City, nur schlimmer. In Tausenden von kleinen Orten überall im Land würde der Strom ausfallen. Auch die Versorgung von Militärstützpunkten und Forschungseinrichtungen wäre betroffen. Die Homeland Security sagt, eine solche Abschaltung käme einer Gefährdung der nationalen Sicherheit gleich. Das Verteidigungsministerium ist derselben Meinung.«
»Und Sie würden vermutlich Millionen von Dollar verlieren«, fügte Rhyme hinzu.
Eine Pause. »Ja, würden wir. Wir würden damit Hunderte
von Verträgen brechen. Es wäre eine Katastrophe für die Firma. Aber es ginge ohnehin nicht. In dem vorgegebenen Zeitrahmen ließe sich das gar nicht bewerkstelligen. Man legt nicht einfach einen Schalter um, und siebenhunderttausend Volt verschwinden. «
»Also gut«, sagte Rhyme. »Wie haben Sie den Brief erhalten?«
»Galt hat ihn einem unserer Angestellten gegeben.«
Rhyme und Sachs sahen sich an.
Jessen erläuterte, Galt habe Sicherheitschef Bernard Wahl überrumpelt, als dieser aus seiner Mittagspause zurückgekehrt sei.
»Ist Wahl dort bei Ihnen?«, fragte Sachs.
»Warten Sie kurz«, sagte Jessen. »Er wurde vom FBI vernommen … Mal sehen.«
»Diese Arschlöcher haben es nicht mal für nötig befunden, uns davon zu unterrichten?«, flüsterte Sellitto. »Wir mussten es von ihr erfahren?«
Wenig später kam der breitschultrige Bernard Wahl ins Bild und nahm neben Andi Jessen Platz. Sein runder schwarzer Kahlkopf glänzte.
»Hallo«, sagte Sachs.
Das gut aussehende Gesicht nickte.
»Geht es Ihnen gut?«
»Ja, Detective.«
Aber es ging ihm gar nicht gut, das konnte Rhyme sehen. Sein Blick war leer und wich der Webcam aus.
»Bitte erzählen Sie, was geschehen ist.«
»Ich war auf dem Rückweg vom Mittagessen. Galt hat mich von hinten mit einer Waffe bedroht und mich in eine Gasse geführt. Da hat er mir den Brief in die Tasche gesteckt und gesagt, ich solle ihn sofort zu Miss Jessen bringen. Dann ist er verschwunden. «
»Das ist alles?«
Ein Zögern. »So ziemlich. Ja, Ma’am.«
»Hat er irgendwas gesagt, das auf sein Versteck oder sein nächstes Ziel hindeuten könnte?«
»Nein. Er hat bloß einen kurzen Monolog darüber gehalten, dass Strom gefährlich sei und Krebs verursache und dass das niemanden zu interessieren scheine.«
Rhyme wollte einen Punkt geklärt wissen. »Mr. Wahl? Haben Sie die Waffe gesehen? Oder hat er geblufft?«
Wieder ein Zögern. »Ich konnte einen kurzen Blick darauf werfen«, sagte der Sicherheitsmann dann. »Eine Fünfundvierziger. Neunzehnhundertelf. Das alte Armee-Modell.«
»Hat er Sie gepackt? Wir könnten an Ihrer Kleidung womöglich Partikelspuren sichern.«
»Nein, er hat mich nur mit der Waffe berührt.«
»Wo ist das passiert?«
»Irgendwo in einer Gasse, in der Nähe einer Autowerkstatt. Ich weiß nicht mehr so genau, Sir. Ich war völlig durcheinander. «
»Und das war wirklich alles?«, fragte Sachs. »Er hat keine Fragen über die Ermittlungen gestellt?«
»Nein, Ma’am, hat er nicht. Ich glaube, es ging ihm nur darum, dass Miss Jessen den Brief unverzüglich erhalten würde. Ihm muss wohl nichts anderes eingefallen sein, als einen Angestellten dafür zu benutzen.«
Rhyme hatte keine weiteren Fragen an ihn. Er schaute zu Sellitto, der den Kopf schüttelte.
Sie bedankten sich, und Wahl ging weg. Jessen blickte auf und nickte jemandem zu, der offenbar im Eingang stand. Dann sah sie wieder in die Kamera. »Gary Noble und ich treffen uns mit dem Bürgermeister. Danach gebe ich eine Pressekonferenz und wende mich an Galt, wie wir es besprochen haben. Glauben Sie, es wird funktionieren?«
Nein, Rhyme glaubte nicht, dass es funktionieren würde.
Aber er sagte: »Versuchen Sie es einfach – und wenn es uns nur etwas mehr Zeit verschafft.«
Sie trennten die Verbindung.
»Was hat Wahl uns verschwiegen?«, fragte Sellitto.
»Er hatte Angst. Galt hat ihm gedroht. Er hat wahrscheinlich einige Informationen preisgegeben. Ich mache mir deswegen nicht allzu große Sorgen. Er wusste nicht viel. Aber was auch immer er erzählt haben mag – wir können uns jetzt sowieso nicht damit aufhalten.«
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Es waren Tucker McDaniel und der Kleine.
Rhyme war überrascht. Der FBI-Agent musste von der bevorstehenden Pressekonferenz wissen und war trotzdem hergekommen, anstatt sich mit aufs Podium zu drängen. Das überließ er anscheinend dem Heimatschutz und lieferte dafür den Brief
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