Opferlämmer
Schlag, ein leises Ächzen, und dann landete Pulaski auch schon wie ein Kämpfer aus einem Kung-Fu-Film geschickt und wortlos neben ihr. Auch er zog seine Waffe.
Es war unmöglich, sich unbemerkt der Vorderseite zu nähern, falls Galt zufällig einen Blick nach draußen warf. Sie würden es von hinten versuchen, aber vorher musste Sachs noch etwas erledigen. Sie schaute sich auf dem Gelände um und winkte Pulaski dann, ihr zu folgen. Im Schutz der Büsche und noch leeren Schuttcontainer steuerten sie die rechte Seite der Schule an.
Während Pulaski ihr Deckung gab, lief sie zu zwei großen rostigen Metallkästen an der Mauer. Auf beiden stand in abblätternder Farbe der Name der Algonquin Consolidated sowie eine Notrufnummer. Amelia zog Sommers’ Stromdetektor aus der Tasche, schaltete ihn ein und überprüfte die Kästen. Die Anzeige blieb bei null.
Das war wenig überraschend, denn das Gebäude stand schon seit Jahren leer. Aber sie war trotzdem froh, es bestätigt zu sehen.
Pulaski berührte sie am Arm. »Schauen Sie«, flüsterte er und zeigte auf eine dreckige Scheibe.
Im Innern war es dunkel, und man konnte kaum etwas deutlich erkennen, aber nach einem Moment glaubte Sachs in der Ferne einen Lichtkegel zu sehen wie von einer Taschenlampe, mit der jemand langsam etwas ableuchtete. Die Schatten waren trügerisch, aber das konnte ein Mann sein, der über irgendein Dokument gebeugt stand. Ein Lageplan? Das Schaubild eines Stromnetzes, das er in eine Todesfalle verwandeln wollte?
»Er ist tatsächlich hier«, flüsterte Pulaski aufgeregt.
Sachs setzte das Headset auf und rief Bo Haumann, den ESU-Leiter.
»Was gibt’s, Detective? Kommen.«
»Hier ist jemand. Ich kann nicht sagen, ob Galt oder ein anderer. Er befindet sich im mittleren Teil des Hauptgebäudes. Ron und ich werden ihn seitlich umgehen. Wie lange bis zu Ihrem Eintreffen? Kommen.«
»Acht, neun Minuten. Wir beziehen lautlos Position. Kommen. «
»Gut. Wir sind dann hinter dem Gebäude. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie bereit für den Zugriff sind. Wir stoßen dann von der Rückseite vor.«
»Roger. Ende.«
Danach rief sie Rhyme an und teilte ihm mit, dass sie den Täter vermutlich gefunden hatten. Sie würden ihn verhaften, sobald die ESU vor Ort war.
»Achtet auf Fallen«, warnte Rhyme.
»Der Strom ist abgeschaltet. Es ist hier sicher.«
Sie trennte die Verbindung und schaute zu Pulaski. »Bereit?«
Er nickte.
Sachs lief geduckt auf die Rückseite der Schule zu, die Waffe fest umklammert. Okay, Galt, dachte sie. Du hast hier keinen Saft, der dich beschützen könnte. Du hast nur eine Pistole. Ich hab auch eine. Und das ist meine Spezialität.
… Neunundfünfzig
Rhyme beendete das Gespräch mit Sachs und spürte schon wieder einen Schweißtropfen. Er musste endlich Thom rufen und ihn bitten, ihm das Gesicht abzuwischen. Kaum etwas fiel ihm schwerer. Bei den größeren Dingen Hilfe in Anspruch zu nehmen, war gar nicht so schlimm: die Bewegungsübungen, Darm und Blase, der Transfer vom Rollstuhl ins Bett oder umgekehrt. Die Nahrungsaufnahme.
Aber die Kleinigkeiten machten ihn rasend … und waren ihm besonders unangenehm. Ein Insekt verscheuchen, einen Fussel von der Hose nehmen.
Ein Rinnsal aus Schweiß wegwischen.
Der Betreuer kam und kümmerte sich um das Problem, ohne groß nachzudenken.
»Danke«, sagte der Kriminalist. Das kam unerwartet. Thom stutzte.
Rhyme wandte sich wieder den Tafeln zu, doch in Wahrheit dachte er im Augenblick kaum an Galt. Womöglich konnten Sachs und das ESU-Team diesen Verrückten bei der Schule in Chinatown festnehmen.
Nein, seine Gedanken kreisten fast ausschließlich um den Uhrmacher in Mexico City. Verflucht noch mal, warum rief Luna oder Kathryn Dance oder sonst wer ihn nicht endlich an und schilderte ihm in aller Ausführlichkeit die Verhaftung?
Vielleicht hatte der Uhrmacher die Bombe längst in dem Bürogebäude platziert, und seine Anwesenheit war bloß ein Ablenkungsmanöver.
In seiner Aktentasche konnten ebenso gut Ziegelsteine stecken. Wieso eigentlich saß er überhaupt in diesem Park herum, als wäre er irgendein Tourist auf der Suche nach einer Margarita? Oder hatte er es auf ein völlig anderes Büro abgesehen?
»Mel«, sagte Rhyme. »Ich möchte sehen, wo der Zugriff stattfindet. Nimm Google Earth … oder wie das heißt. Bitte such die Stelle in Mexico City für mich heraus.«
»Gern.«
»Avenue Bosque de Reforma … Wie oft werden die Aufnahmen aktualisiert?«
»Keine
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