Opferlämmer
Steckdosen in der Wand. »Wenigstens haben wir keine weiteren Forderungen mehr erhalten. Herrje, gestern gleich zwei innerhalb weniger Stunden. Ich hatte irgendwie den Eindruck, er war so sauer, dass er diese armen Schweine in dem Aufzug auf jeden Fall getötet hätte.« Der massige Mann seufzte. »Ich werde in der nächsten Zeit jedenfalls lieber die Treppe nehmen, das darfst du mir glauben. Ist immerhin gut für die Figur.«
Rhymes Blick wanderte über die Tafeln. Es stimmte, die Ermittlungen waren wenig zielgerichtet. Galt war schlau, aber er war nicht brillant, und er hinterließ reichlich Spuren. Sie führten nur zu keiner konkreten Erkenntnis, sondern ließen lediglich allgemeine Rückschlüsse auf die Art seiner Anschläge zu. Was würde als Nächstes kommen?
Ein Flughafen?
Ein Öldepot?
Lincoln Rhyme stellte sich allerdings noch eine andere Frage: Sind die Pfade womöglich da, und ich sehe sie bloß nicht?
Er spürte abermals Schweiß auf seiner Stirn sowie einen Anflug der Kopfschmerzen, die ihm schon seit einiger Zeit zu schaffen machten. Eine Weile hatte er die Symptome erfolgreich ignoriert, aber sie kehrten immer wieder. Ja, er fühlte sich schlechter, daran bestand kein Zweifel. Wirkte es sich auch auf seinen Intellekt aus? Er würde es niemals zugeben, nicht mal Sachs gegenüber, aber es gab vermutlich nichts auf der Welt, das er so sehr fürchtete. Es verhielt sich genau so, wie er am Vorabend zu Susan Stringer gesagt hatte: Sein Verstand war alles, was er besaß.
Er sah unwillkürlich zum Wohnzimmer auf der anderen Seite des Korridors. Die Tür stand offen, und auf dem Tisch lag Dr. Arlen Kopeskis Sterben-in-Würde-Broschüre.
Die freie Wahl …
Dann schob Rhyme den Gedanken beiseite.
In diesem Moment erhielt Sellitto einen Anruf. Er setzte sich auf und stellte hastig den Kaffee hin. »Ja? Wo?« Er notierte sich etwas.
Alle im Raum sahen ihn gespannt an. Ein neuer Erpresserbrief?, dachte Rhyme.
Sellitto klappte das Telefon zu und blickte von seinen Notizen auf. »Okay, das könnte was sein. Ein Streifenbeamter hat sich aus der Nähe von Chinatown gemeldet. Eine Frau ist zu ihm gekommen und hat gesagt, sie glaubt, sie hätte unseren Täter gesehen.«
»Galt?«, fragte Pulaski.
»Wen suchen wir denn sonst noch, Officer?«, lautete die mürrische Gegenfrage.
»Verzeihung.«
»Sie meint, ihn anhand des Fotos erkannt zu haben.«
»Wo genau?«, fragte Rhyme.
»Es gibt da in der Gegend eine leer stehende Schule.« Sellitto nannte ihnen die Adresse. Sachs schrieb sie sich auf.
»Der Kollege hat nachgesehen. Momentan ist niemand dort.«
»Aber falls er dort war , hat er bestimmt was hinterlassen«, sagte Rhyme und nickte Sachs zu.
Sie stand auf. »Okay, Ron, los geht’s.«
»Nehmen Sie lieber Verstärkung mit«, riet Sellitto. » Ein paar unserer Leute sind vermutlich noch übrig und halten nicht gerade vor einem Sicherungskasten oder Stromkabel Wache.«
»Gut, holen wir die ESU«, sagte Sachs. »Sie sollen in der Nähe Position beziehen, aber vorläufig unsichtbar bleiben. Ron und ich gehen rein. Falls Galt doch da ist und wir einen Zugriff durchführen müssen, gebe ich Bescheid. Aber wir sollten nicht auf Verdacht ein ganzes Team vorschicken, das sämtliche Spuren verunreinigt.«
Sie machten sich auf den Weg.
Sellitto verständigte Bo Haumann von der Emergency Services Unit und gab ihm die notwendigen Informationen. Der ESU-Leiter und seine Leute würden sich bereithalten und mit Sachs abstimmen. Der Detective trennte die Verbindung und sah sich im Raum um, wahrscheinlich nach einem Imbiss. Er fand einen Teller mit Gebäck, wie üblich von Thom bereitgestellt, nahm sich eine Bärentatze, tunkte sie in seinen Kaffee und aß. Dann runzelte er die Stirn.
»Was ist?«, fragte Rhyme.
»Mir fällt gerade ein, dass ich vergessen habe, McDaniel und die Bundesbehörden anzurufen und ihnen von dem Einsatz in Chinatown zu erzählen.« Dann verzog er das Gesicht und hielt theatralisch sein Mobiltelefon hoch. »Ach, Scheiße, das kann ich ja gar nicht. Meine SIM-Karte reicht nicht bis ins digitale Umfeld. Da muss ich ihn wohl später benachrichtigen.«
Rhyme lachte und ignorierte den stechenden Schmerz, der
ihm durch den Kopf schoss. Da klingelte sein Telefon und ließ sowohl das Lachen als auch die Kopfschmerzen verschwinden.
Kathryn Dance rief an.
Sein Finger tippte hastig auf das Touchpad. »Ja, Kathryn? Was gibt’s?«
»Ich habe Rodolfo am Apparat«, sagte sie. »Er kennt jetzt die
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