Opferlämmer
trägt, und ein weiteres Paar gekauft. Das Gleiche gilt für den Bolzenschneider und die Bügelsäge. Der echte Täter hat sie für uns in Galts Wohnung platziert. Genau wie den Rest der vermeintlich Galt belastenden Beweise, zum Beispiel das Haar in dem Café gegenüber dem Umspannwerk an der Siebenundfünfzigsten Straße. Er hat es dort mit Absicht zurückgelassen.«
Rhyme nickte in Richtung der Dokumente, die Pulaski aus Galts Drucker gerettet hatte. »Seht euch den Blog-Eintrag an.«
Meine Geschichte ist typisch für viele Betroffene. Ich habe jahrelang für diverse Energieunternehmen als Techniker gearbeitet und bin dabei ständig mit Leitungen in Kontakt gekommen, die unter mehr als einhunderttausend Volt Spannung standen. Da die elektromagnetischen Felder dieser Kabel nicht abgeschirmt werden, haben sie bei mir Leukämie ausgelöst, davon bin ich überzeugt. Außerdem wurde inzwischen bewiesen, dass Stromleitungen Aerosolpartikel anziehen, die unter anderem zu Lungenkrebs führen, aber das wird in den Medien natürlich verschwiegen.
Wir müssen allen Energieunternehmen — und noch viel wichtiger: der Öffentlichkeit – diese Gefahren bewusst machen. Denn freiwillig werden die Firmen nichts tun, warum sollten sie auch? Falls die Leute ihren Stromverbrauch auch nur um fünfzig Prozent reduzieren würden, könnten wir jedes Jahr Tausende von Leben retten und zugleich die Firmen zu mehr Verantwortung erziehen. Als Folge würden sie sicherere Methoden des Stromtransports entwickeln. Und außerdem aufhören, die Erde zu zerstören.
Leute, wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen! Raymond Galt
»Und nun vergleicht das mit den ersten beiden Absätzen des ersten Erpresserbriefes.«
Gegen 11.30 Uhr gestern Vormittag hat sich beim Umspannwerk MH-10 an der 57. Straße West in Manhattan ein Vorfall mit einem Lichtbogen ereignet. Zu diesem Zweck wurden ein Kabel Marke Bennington und eine Sammelschiene mittels zweier Drahtverbindungsschrauben an einer abgehenden Leitung befestigt. Durch die Abschaltung von vier anderen Umspannwerken und die Erhöhung der Trennereinstellungen in MH-10 kam es zu einer Überlastung von knapp zweihunderttausend Volt, die sich in dem Lichtbogen entladen hat. Dieser Vorfall war allein Ihre Schuld und Ihrer Gier und Selbstsucht zu verdanken, die typisch für die gesamte Branche ist und angeprangert werden muss. Enron hat die Finanzen vieler Menschen vernichtet, Ihre Firma richtet unsere physische Existenz und die Natur zugrunde. Durch die kommerzielle Verwertung von Elektrizität ohne Rücksicht auf die Konsequenzen zerstören Sie unsere Welt. Sie schleichen sich heimtückisch in unsere Leben wie ein Virus, bis wir von dem abhängig sind, was uns tötet.
»Was ist der Unterschied?«, fragte Rhyme.
Sachs zuckte die Achseln.
»Es gibt jedenfalls keine Rechtschreibfehler«, merkte Pulaski an.
»Stimmt, Grünschnabel, aber darauf will ich nicht hinaus. Jede Textverarbeitung hat eine Rechtschreibprüfung, und auch wenn ein Brief von Hand verfasst wird, kann er zuvor am Computer entworfen worden sein. Ich meine die Wortwahl.«
Sachs nickte energisch. »Stimmt. Der Blog-Eintrag ist viel simpler formuliert.«
»Richtig. Dieser Eintrag stammt von Galt persönlich. Die Briefe hingegen wurden ihm von dem echten Täter diktiert, oder er musste sie von einer Vorlage abschreiben . Der Mann hat ihn entführt und dazu gezwungen. Die Wortwahl der Briefe ist die des Täters. Und der letzte Erpresserbrief, der per E-Mail gekommen ist, stammt direkt vom Täter. Vermutlich stand ihm kein entsprechender Text in Galts Handschrift zur Verfügung.«
Sellitto ging auf und ab; der Boden knarrte. »Wisst ihr noch, was Parker Kincaid über die Handschrift gesagt hat? Dass der Brief von jemandem geschrieben wurde, der unter Druck stand oder aufgeregt war – weil er mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen wurde. Da wäre wohl jeder aufgeregt. Außerdem musste Galt alle Schalter und den Helm anfassen, damit sie seine Fingerabdrücke tragen würden.«
Rhyme nickte. »Ich wette, die Blog-Einträge sind alle echt. Wahrscheinlich ist der Täter durch sie überhaupt erst auf Galt gestoßen. Er hat gelesen, wie wütend Galt auf die Stromindustrie war.«
Sein Blick wanderte über die Kabel, Schrauben und Muttern.
Und über den Generator, wo er einen Moment verweilte.
Dann startete Rhyme auf seinem Computer ein Textverarbeitungsprogramm und fing an zu tippen. Sein Nacken und die Schläfen pochten – diesmal
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