Opferlämmer
vornherein fest davon ausging, übersah man womöglich das Messer, das in Wahrheit die Mordwaffe war.
»Also gut, der oder die Täter haben die Vorrichtung vom Innern des Gebäudes aus installiert. Doch ich glaube, dass jemand auch irgendwann nach hier draußen kommen und die Entfernungen und Winkel überprüfen musste.«
»Um mit dem Ding auf den Bus zu zielen?«
»Genau.«
»Okay, dann mach mit dem Gehweg weiter.«
Sie blickte zu Boden. »Zigarettenstummel, Kronkorken. Allerdings nicht in der Nähe der Tür oder des Fensters mit dem Kabel. «
»Kümmere dich nicht darum. Er hat während der Arbeit ganz bestimmt nicht geraucht oder getrunken, dazu ist er zu schlau – wenn man berücksichtigt, wie er diese Sache aufgezogen hat. Aber er könnte andere Partikel hinterlassen haben. Dicht am Gebäude, wo er gestanden hat.«
»Sieh mal, da ist ein Sims.« Sie betrachtete eine Mauerkante knapp einen Meter über dem Bürgersteig. Die schmale Fläche war mit Spitzen versehen, damit weder Tauben noch Leute sich dort niederließen, aber man konnte sie als Trittstufe benutzen, um die Arme nach dem Fenster auszustrecken. »Es gibt ein paar Schuhabdrücke. Aber sie reichen nicht für ein elektrostatisches Abbild.«
»Lass sehen.«
Sie beugte sich vor, damit er besser erkennen konnte, was sie sah: Umrisse, bei denen es sich um die vorderen Teile von Schuhsohlen handeln konnte.
»Du kannst keine Abdrücke nehmen?«
»Nein, die Spuren sind zu undeutlich. Aber dem Augenschein nach stammen sie vermutlich von Männerschuhen. Breite, rechteckige
Zehenpartien, aber das ist auch schon alles. Kein Sohlenprofil, keine Absätze. Immerhin verrät es uns, dass offenbar nur eine Person hier draußen gewesen ist, auch wenn mehrere daran beteiligt sein mögen.«
Sie setzte die Untersuchung des Bürgersteigs fort, fand aber keine relevanten Hinweise mehr.
»Sichere die Partikel, Sachs, und dann nimm dir das Gebäude von innen vor.«
Sie bat die beiden Techniker aus Queens, unmittelbar am Eingang des Umspannwerks starke Halogenstrahler aufzustellen. Dann schoss sie Fotos vom Bürgersteig und dem Sims unterhalb des Kabels und sammelte dort Partikel ein.
»Vergiss nicht…«, setzte Rhyme an.
»… die Substrate.«
»Ah, du bist mir mal wieder einen Schritt voraus, Sachs.«
Nicht wirklich, dachte sie, denn sie arbeitete schon seit Jahren unter seiner Anleitung, und falls ihr die grundlegenden Verfahren noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen wären, hätte sie in diesem Job nichts verloren gehabt. Sie ging nun zu einer Stelle direkt außerhalb des abgesperrten Bereichs und nahm die Substrate – Kontrollproben, die man mit denen vom Tatort vergleichen konnte. Jeder Unterschied zwischen dem, was in einiger Entfernung vom Schauplatz gesichert wurde, und den Proben der Stelle, an der ein Täter sich befunden hatte, wies eventuell direkt auf ihn oder seine Wohnung hin.
Eventuell auch nicht… aber so war nun mal die Natur der Tatortarbeit. Nichts war je gewiss, aber man tat, was man konnte und tun musste.
Sachs reichte die eingetüteten Spuren an die Techniker weiter. Dann winkte sie den Gebietsleiter der Algonquin zu sich, mit dem sie zuvor schon gesprochen hatte.
Der Mann eilte mit nach wie vor ernster Miene zu ihr. »Ja, Detective?«
»Ich werde jetzt das Gebäudeinnere untersuchen. Können Sie mir genau sagen, worauf ich achten muss – wie er das Kabel installiert hat? Ich möchte herausfinden, wo er gestanden und was er angefasst hat.«
»Wir fragen am besten jemanden, der hier die regelmäßigen Wartungsarbeiten durchführt.« Er ließ den Blick über die Arbeiter schweifen und rief einen Mann zu sich, der den dunkelblauen Overall der Algonquin Consolidated Power und einen gelben Schutzhelm trug. Der Arbeiter warf seine Zigarette weg und kam zu ihnen. Der Gebietsleiter stellte ihn und Sachs einander vor und wiederholte Amelias Bitte.
»Ja, Ma’am«, sagte er. Seine Augen lösten sich von dem Umspannwerk und wanderten über Sachs’ Brust, obwohl ihre Figur weitgehend durch den unförmigen blauen Tyvek-Overall verdeckt wurde. Sie zog kurz in Erwägung, im Gegenzug seinen ausladenden Bauch zu mustern, tat es aber natürlich nicht. Hunde pinkeln nun mal, wohin sie wollen; es hat keinen Sinn, sie ständig zurechtzuweisen.
»Werde ich sehen können, wo er das Kabel an der Stromquelle angebracht hat?«, fragte sie.
»Das ist alles offen, ja«, sagte der Mann. »Ich schätze, er hat es in der Nähe der Trenner
Weitere Kostenlose Bücher