Opferlämmer
umliegenden Kanaldeckel und Keller vor. Es existieren keine offensichtlichen Zugangswege, aber das ist vielleicht eine gute Nachricht. Unser Täter glaubt womöglich, ihm könne sowieso niemand was anhaben. Mit etwas Glück landen wir einen Treffer.«
Rhyme drängte seine Mitarbeiter stets, keinesfalls zu vergessen, dass mit jedem Verbrechen mehrere Schauplätze in Verbindung standen. Ja, es mochte nur einen einzigen Ort geben, an dem die eigentliche Tat verübt wurde. Aber es gab Anfahrts- und Fluchtwege, und dabei konnte es sich um zwei verschiedene Strecken handeln – oder um noch mehr, falls mehr als ein Täter beteiligt war. Es gab eventuell einen Ort, an dem man das Verbrechen vorbereitet hatte. Es gab vielleicht Treffpunkte. Und unter Umständen versammelten sich alle nach der Tat in einem Motel, um zu feiern und die Beute aufzuteilen. In neun von zehn Fällen waren es diese Schauplätze – die sekundären oder tertiären –, an denen die Täter vergaßen, Handschuhe zu tragen und nichts zu hinterlassen. Manchmal ließen sie sogar ihre Namen und Adressen offen herumliegen.
Rhyme hatte durch Sachs’ Mikrofon mitgehört. »Gut mitgedacht,
Grünschnabel«, sagte er. »Aber mit Glück hat das wenig zu tun.«
»Jawohl, Sir.«
»Und gewöhnen Sie sich dieses selbstgefällige Grinsen ab. Ich hab das gesehen.«
Pulaski schluckte. Er hatte vergessen, dass Rhyme nicht nur Amelia Sachs’ Ohren und Beine, sondern auch ihre Augen benutzte. Dann machte er sich daran, seine Suche fortzusetzen und herauszufinden, wie der Täter in das Umspannwerk eingedrungen war.
Sachs kehrte mit ihren Werkzeugen ins Gebäude zurück und befreite sie mit einigen Klebekissen von etwaigen Verunreinigungen. Dann ging sie zu dem Trenner, der Stelle, an der das Kabel des Attentäters mit den Schrauben befestigt war. Sie wollte nach dem Ende der Leitung greifen, hielt jedoch unwillkürlich inne. Das blanke Metall schimmerte im Strahl ihrer Stirnlampe.
»Sachs?« Rhymes Stimme ließ sie zusammenzucken.
Sie antwortete nicht, sondern sah erneut das Loch in dem Pfosten vor sich, die tödlichen Stücke des geschmolzenen Stahls, die Löcher in dem jungen Opfer.
Die Leitungen sind tot …
Doch was würde passieren, wenn sie das Metall anfasste und jemand in einem drei oder vier Kilometer entfernten gemütlichen kleinen Kontrollraum beschloss, den Strom wieder einzuschalten? Einen Knopf zu drücken, weil er nichts von der Suche wusste?
Und wo zum Teufel sind diese verdammten Batterien?
»Wir brauchen die Beweismittel so schnell wie möglich«, sagte Rhyme.
»Richtig.« Sie schob eine Nylonhülle über das Ende ihres Schraubenschlüssels, damit er auf den Schrauben oder Muttern keine Spuren hinterlassen würde, die man mit denen des Täters verwechseln konnte. Dann beugte sie sich vor und setzte das Werkzeug nach nur kurzem Zögern an der ersten Schraube an.
Es gelang ihr mit einiger Anstrengung, sie zu lösen. Sie arbeitete so schnell sie konnte und rechnete damit, jeden Moment ein sengendes Brennen zu verspüren, obwohl sie bei einer so hohen Spannung vermutlich gar nichts mehr merken, sondern sofort tot sein würde.
Die zweite Befestigung ließ sich ebenso flink entfernen. Amelia zog das Kabel ab, rollte es auf und umwickelte es mit Plastikfolie. Die Schrauben und Muttern kamen in eine Beweismitteltüte. Sachs legte alles draußen vor der Tür ab, wo Pulaski oder die Techniker es abholen konnten. Dann setzte sie ihre Suche fort und entdeckte weitere Fußabdrücke, die mit denen des mutmaßlichen Täters übereinzustimmen schienen.
Sie neigte den Kopf.
»Du machst mich schwindlig, Sachs.«
»Was war das?«, fragte sie sich selbst ebenso wie Rhyme.
»Hast du was gehört?«
»Ja, du etwa nicht?«
»Nein, sonst würde ich dich wohl kaum danach fragen.«
Es klang wie eine Art Ticken. Sie ging in die Mitte des Umspannwerks und schaute über das Geländer in die Finsternis darunter.
Bildete sie sich das nur ein?
Nein, das Geräusch war unverkennbar.
» Jetzt höre ich es auch«, sagte Rhyme.
»Das kommt von unten, aus dem Keller.«
Ein gleichmäßiger Takt. Nicht wie von einem Menschen.
Ein Zeitzünder?, fragte sie sich. Und musste abermals an eine Falle denken. Der Täter war raffiniert. Er wusste bestimmt, dass ein Team der Spurensicherung das Umspannwerk genau untersuchen würde. Und womöglich wollte er das verhindern. Sachs teilte Rhyme ihre Befürchtungen mit.
»Aber wieso hat er die Falle dann nicht in der Nähe des
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