Opferlämmer
Amelia, dass Jessen einen etwas jüngeren Bruder hatte. Die beiden sahen sich ähnlich, obwohl er braunhaarig und sie blond war. Bilder aus jüngerer Zeit zeigten ihn als einen gut aussehenden, sportlichen Mann in Armeeuniform. Darüber hinaus gab es Fotos von ihm auf Reisen, bisweilen mit einer hübschen Frau im Arm, und zwar jedes Mal einer anderen.
Von Andi Jessen standen dort keine Bilder mit irgendeinem Partner an ihrer Seite.
An den Wänden gab es Bücherregale und gerahmte altertümliche Drucke und Stadtpläne, die aus einem Museum über die Geschichte der Elektrizität hätten stammen können. Eine der Karten war mit Das erste Netz betitelt und zeigte einen Teil von Lower Manhattan rund um die Pearl Street. Darunter stand der gut leserliche Namenszug Thomas A. Edison , und Sachs nahm an, dass es sich um die echte Unterschrift des Erfinders handelte.
Jessen legte auf und beugte sich vor, die Ellbogen auf dem Tisch, die Augen müde, aber den Kiefer entschlossen vorgereckt. »Seit dem … Zwischenfall sind nun schon mehr als sieben Stunden vergangen. Ich hatte gehofft, Sie könnten bereits eine Festnahme vermelden. Aber ich schätze, dann hätten Sie mich lediglich angerufen und nicht persönlich aufgesucht.«
»Vermutlich. Nein, ich bin hergekommen, um Ihnen einige
Fragen zu stellen, die sich während der Ermittlungen ergeben haben.«
Wieder ein taxierender Blick. »Ich habe mit dem Bürgermeister gesprochen, mit dem Gouverneur und mit dem Leiter der FBI-Zweigstelle New York. Ach ja, und außerdem mit dem Heimatschutz. Ich habe mit einem von denen gerechnet, nicht mit einer Polizeibeamtin.«
Das war nicht herablassend gemeint, jedenfalls nicht absichtlich, und Sachs nahm es ihr nicht übel. »Das NYPD leitet die Spurensicherung des Falls. Meine Fragen beziehen sich darauf.«
»Ah, ich verstehe.« Ihre Miene entspannte sich ein wenig. »Nur unter uns, ich bin da vielleicht etwas zu empfindlich. Ich dachte, die großen Jungs würden mich mal wieder nicht ernst nehmen.« Sie lächelte verschwörerisch. »Es wäre bei Weitem nicht das erste Mal, das dürfen Sie mir glauben.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Sie kennen das bestimmt aus eigener Erfahrung, Detective, oder?«
»Ganz recht.« Sachs wurde allmählich ungeduldig. »Können wir zu den Fragen kommen?«
»Natürlich.«
Jessen hatte ihre Assistentin angewiesen, keine Gespräche mehr durchzustellen. Dennoch klingelte das Telefon bei jedem eingehenden Anruf einmal kurz, bevor im Vorzimmer abgehoben wurde.
»Dürfte ich vorweg fragen, ob Sie die Zugangscodes der Steuerungssoftware geändert haben?«
Ein Stirnrunzeln. »Selbstverständlich. Das war unsere erste Maßnahme. Haben der Bürgermeister oder die Homeland Security Sie denn nicht unterrichtet?«
Nein, haben sie nicht , dachte Sachs.
»Und wir haben zusätzliche Firewalls installiert«, fuhr Jessen fort. »Nun können die Hacker auf keinen Fall mehr herein.«
»Es waren wahrscheinlich keine Hacker.«
Jessen neigte den Kopf. »Aber Tucker McDaniel – der vom FBI – hat heute Vormittag gesagt, es seien vermutlich Terroristen gewesen.«
»Uns liegen aktuellere Informationen vor.«
»Wie sonst sollte es abgelaufen sein? Jemand von außen hat die Stromzufuhr umgeleitet und die Einstellungen der Trenner von MH-Zehn geändert – dem Umspannwerk an der Siebenundfünfzigsten Straße.«
»Stimmt, aber wir sind uns ziemlich sicher, dass er die Codes gekannt hat.«
»Das ist unmöglich. Es müssen Terroristen gewesen sein.«
»Die Möglichkeit besteht durchaus, und wir kommen noch darauf zu sprechen. Doch auch dann war ein Insider darin verwickelt. Ein Beamter unserer Abteilung für Computerkriminalität hat sich mit Ihren IT-Fachleuten beraten. Er sagt, es deute nichts auf einen externen Hacker hin.«
Jessen verstummte und musterte ihren Schreibtisch. Sie sah nicht allzu glücklich aus – wegen der Neuigkeit über den Insider? Oder weil jemand aus ihrer Firma mit der Polizei redete, ohne dass sie davon wusste? Sie machte sich eine Notiz. Weil sie den Techniker maßregeln wollte?
»Der Verdächtige wurde in Algonquin-Kleidung gesehen«, fuhr Sachs fort. »Oder zumindest in einem blauen Overall, der dem Ihrer Angestellten stark geähnelt hat.«
»Welcher Verdächtige?«
»Ein Mann hat zur Zeit des Anschlags in einem Café auf der anderen Straßenseite gesessen. Er hatte einen Laptop dabei.«
»Konnten Sie Näheres über ihn erfahren?«
»Weiß, etwa Anfang vierzig. Das ist auch
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