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Opferlämmer

Opferlämmer

Titel: Opferlämmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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achtzehn Uhr dreißig, und doch hielten sich immer noch Dutzende von Angestellten hier auf, die Krawatten gelockert, die Ärmel hochgekrempelt, die Mienen besorgt.
    Am Ende des Korridors lieferten die Wachleute sie beim Büro von A. R. Jessen ab. Obwohl die Fahrt hierher ereignisreich verlaufen war – nicht zuletzt wegen der hundertzehn Kilometer pro Stunde auf einem Abschnitt des Highways –, hatte Sachs es geschafft, einige Nachforschungen anzustellen. Jessen war kein Andy, sondern eine Andi , kurz für Andrea. Sachs bemühte sich stets, nicht unvorbereitet in ein Gespräch zu gehen. Das war wichtig, um bei Befragungen und Verhören in der stärkeren Position zu sein. Ron hatte einfach angenommen, der Chef sei ein Mann. Sachs stellte sich vor, wie sehr ihre Glaubwürdigkeit gelitten hätte, falls sie hier aufgekreuzt wäre, um einen Mr. Jessen zu besuchen.
    Drinnen blieb Sachs kurz hinter der Tür des Vorzimmers stehen. Eine Sekretärin oder persönliche Assistentin in einem engen schwarzen Oberteil und gewagten Stöckelschuhen balancierte auf Zehenspitzen vor einem Aktenschrank und kramte im
obersten Fach herum. Die blonde Frau, die Sachs auf Ende dreißig oder Anfang vierzig schätzte, runzelte die Stirn und schien sich zu ärgern, dass sie nicht fand, was ihre Chefin wollte.
    Im Durchgang zum Hauptbüro stand eine streng dreinblickende Frau mit grau meliertem Haar, schmucklosem braunem Kostüm und hochgeschlossener Bluse und sah der anderen missbilligend und mit verschränkten Armen zu.
    »Ich bin Detective Sachs und habe vorhin angerufen«, sagte Amelia, als die ältere Frau sich in ihre Richtung wandte.
    In diesem Moment zog die andere einen Aktenordner aus dem Schrank und gab ihn der Älteren. »Da ist er, Rachel«, sagte sie. »Es tut mir leid, ich habe ihn abgelegt, als Sie beim Mittagessen waren. Bitte seien Sie so freundlich und fertigen fünf Kopien an.«
    »Ja, Miss Jessen«, sagte sie und ging zu einem Kopiergerät.
    Die Firmenchefin kam auf ihren gefährlich hohen Absätzen näher, blickte zu Sachs auf und schüttelte ihr mit festem Druck die Hand. »Bitte treten Sie ein, Detective«, sagte sie. »Wie es aussieht, haben wir eine Menge zu besprechen.«
    Sachs warf einen kurzen Blick auf die braun gekleidete Assistentin und folgte der echten Andi Jessen in ihr Büro.
    So viel zum Thema Vorbereitungen, dachte sie beschämt.

... Siebzehn
    Andrea Jessen schien der Irrtum nicht entgangen zu sein. »Ich bin die zweitjüngste Person an der Spitze eines bedeutenden amerikanischen Energieunternehmens und die einzige Frau. Und obwohl ich bei Personalentscheidungen das letzte Wort habe, arbeiten bei den meisten anderen großen Firmen der Vereinigten Staaten zehnmal so viele Frauen wie bei uns. Das liegt in der Natur unserer Branche.«
    Sachs wollte fragen, weshalb Jessen diesen Beruf ergriffen hatte, doch die kam ihr zuvor. »Ich bin in die Fußstapfen meines Vaters getreten.«
    Amelia hätte ihr beinahe erzählt, dass auch sie ihrem Vater nachgefolgt war, der dem NYPD viele Jahre als Streifenpolizist gedient hatte. Doch im letzten Moment entschied sie sich dagegen.
    Jessen hatte ein schmales Gesicht und außer etwas Puder kein Make-up aufgelegt. In den Winkeln ihrer grünen Augen und entlang der schmalen Lippen gab es einige schwache Fältchen, doch ansonsten war die Haut glatt. Diese Frau verbrachte nicht viel Zeit unter freiem Himmel.
    Auch sie nahm Sachs genau in Augenschein und wies dann auf einen großen Tisch, um den herum einige Bürostühle standen. Amelia nahm Platz. Jessen hob den Telefonhörer ab. »Entschuldigen Sie mich für einen Moment.« Ihre manikürten, aber nicht polierten Fingernägel huschten über das Tastenfeld.
    Sie rief drei verschiedene Personen an – und es ging stets um
den Anschlag. Zuerst redete sie mit einem Anwalt, erkannte Sachs, dann mit der Presseabteilung oder einer externen PR-Firma. Das dritte Gespräch dauerte am längsten. Offenbar veranlasste sie, dass alle Umspannwerke und anderen Einrichtungen des Unternehmens mit zusätzlichem Wachpersonal bemannt wurden. Während sie sich mit einem vergoldeten Bleistift in winziger Schrift Notizen machte, gab Jessen knappe und schnelle Anweisungen ohne jegliche Füllworte wie »ich meine« oder »wissen Sie«. Sachs ließ den Blick unterdessen durch den Raum schweifen und bemerkte auf dem breiten Teakholzschreibtisch das Foto einer halbwüchsigen Andi Jessen und ihrer Familie. Aus diesem und einigen anderen Kinderfotos folgerte

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