Opferschuld
normalste Frage der Welt. «Ich meine, was hat er vorher gemacht?»
«Keine Ahnung», sagte Wendy. «Das ist ja auch so klasse an ihm. Er spricht nicht viel über sich selbst. Bei den meisten Kerlen geht’s immer bloß ‹ich, ich, ich›, bei James nicht. Er scheint sich nur für andere Menschen zu interessieren.»
Draußen im blendenden Sonnenlicht dachte Vera, dass das tatsächlich etwas zu anständig klang, um wahr zu sein. Sie saß auf einer der Holzbänke vor dem Imbiss und trank einen Milchkaffee, unsicher, worauf sie eigentlich wartete. Eine Gruppe Vogelbeobachter mit lächerlichen Kopfbedeckungen vertilgte schmatzend ihre Hot Dogs. Sie redeten mit vollem Mund über Vögel, die sie gesehen oder verpasst hatten. Vera, deren Vater in gewisser Weise auch Vogelbeobachter gewesen war, verspürte eine merkwürdige Nostalgie. Einem der Männer rann Fett von seinem Hot Dog übers Kinn, aber er wischte es weg, bevor es auf das Fernglas tropfen konnte, das er um den Hals trug. Wendy Jowell kam aus ihrem Cottage und ging die Anlegestelle entlang zum Lotsenboot. Vera sah, wie es aus dem Schutz des Flusses in die offene See glitt und über die hereinrollendenWellen sprang, bis es hinter der Landspitze verschwand. Die Vogelbeobachter brachen auf, und sie fror allmählich, aber sie konnte sich immer noch nicht aufraffen.
Gerade als das Lotsenboot wieder in Sicht kam, läutete ihr Handy. Es war Ashworth.
«Ich dachte, Sie würden gern wissen, wie weit wir bis jetzt gekommen sind.»
Wir. Er hatte seinen Zauber also schon wirken lassen, hatte angefangen, Bündnisse zu schmieden, Brücken zu bauen. Das örtliche Team würde ihn bemitleiden, dass er so eine fette Kuh wie sie zur Vorgesetzten hatte.
«Lassen Sie hören.»
«Ich habe bei der Führerschein- und der Passbehörde nachgefragt. Denen zufolge ist offenbar alles in Ordnung. James Richard Bennett. Geboren am 16. Juni 1966. Geburtsort Crill, East Yorkshire.»
«Also ist er von hier. Und Mantel muss sich geirrt haben, als er sagte, dass Bennett nicht sein richtiger Name wäre. Oder er wollte Unruhe stiften. Nach dem, was Michael Long sagt, sind sie in derselben Stadt aufgewachsen. Vielleicht gab es ja alte Rechnungen zu begleichen.» Sie war enttäuscht. Sie hatte es im Urin gehabt, dass James Bennett nicht echt war. Das war kein Mann, dem sie einfach so glauben konnte. Er war zu anständig, um wahr zu sein, ganz wie Wendy gesagt hatte.
«Nicht unbedingt.»
«Ach ja?»
«Seine Geburt wurde nicht auf diesen Namen registriert. Keine Sozialversicherungsnummer, bis 1987 kein Eintrag, dass es ihn gibt.»
«Da muss er einundzwanzig gewesen sein. Wenn Mantel ihn also als jemand anderen kannte, muss er sehr jung gewesen sein. Aber sie könnten sich in Crill über den Weg gelaufensein. Ich würde es Mantel durchaus zutrauen, junge Menschen in seine zwielichtigen Geschäfte zu verwickeln. Die sind immerhin billig.»
«Ich habe im Staatsarchiv nachgeforscht. Er hat seinen Namen 1987 durch einseitige Rechtserklärung ändern lassen. Hat alles korrekt gemacht. Einen alten Lehrer mitgebracht, der den Antrag unterstützte. Es muss jemand sein, der einen seit mindestens zehn Jahren kennt. Er hat es in der
London Gazette
bekannt gemacht, wie es Vorschrift ist, und die Erklärung mit seinem alten und neuen Namen unterzeichnet.»
«Wie hieß er vorher?»
«Shaw. James Richard Shaw.»
«Kein Name, an dem man Anstoß nehmen könnte», sagte Vera. «Ich meine, es gibt Namen, da sieht man gleich, warum jemand den ändern wollte. Aber doch nicht bei Shaw. Warum also hat er sich die Mühe gemacht? Vor wem wollte er sich verstecken?»
«Mantel?», schlug Ashworth vor.
«Vielleicht. Bennett ist zur See gegangen. Das klingt für mich wie Weglaufen. Und dann ist er vielleicht zurückgekommen, als er glaubte, jetzt wäre er sicher.»
«In das Dorf, in dem Mantel wohnt? Das ergibt keinen Sinn.»
«Vielleicht hatte sich die Lage geändert. Vielleicht war er ja bereit, es auf sich zu nehmen, damit Emma in der Nähe ihrer Eltern wohnen kann. Nach fünfzehn Jahren sieht man doch anders aus. Glauben Sie, seine Frau weiß Bescheid über die Namensänderung?»
«Nicht zwingend. Wenn man verheiratet ist, muss man seine Frau von so etwas unterrichten, aber ein Aufgebot kann man auch unter dem neuen Namen bestellen.»
«Wie auch immer», sagte Vera, «es ist ja doch ein großesGeheimnis, wenn man so etwas für sich behält. Man braucht schon einen guten Grund, um seiner frisch
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