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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Einzelheiten fragen konnte, und rief nach Michael, der demonstrativ taktvoll in der Küche wartete: «Ich wäre dann so weit, Herzchen. Lassen Sie uns ein bisschen spazieren gehen.»
    Vera merkte genau, dass sie den Leuten auffielen, als sie zusammen die Straße hinuntergingen. Es gab keine offensichtlichen Anzeichen, niemand starrte sie an, niemand hob die Vorhänge. Aber man spürte es an der bemühten Art, mit der die Damen vor der Post ihre Unterhaltung fortsetzten und dann abbrachen, um ihnen mit den Blicken zu folgen. Und der Pfarrer, der offenbar gerade herüberkommen wollte, um mit Michael zu reden, blieb stehen, als er Vera sah, und begnügte sich mit einem Winken. Nur ein einsamer Reporter kam auf sie zu, aber sie scheuchte ihn weg, und ohne seine Kollegen fehlte ihm wohl der Mut, sich ihnen an die Fersen zu heften. Vera fragte sich, ob die Einheimischen bloß neugierig waren oder ob sie glaubten, dass sie aus beruflichen Gründen mit Michael unterwegs war. Glaubten sie etwa, dass sie ihn verhaftete? Sahen sie deshalb alle so betreten drein?
    Sie kannte sich aus mit kleinen Orten, Dörfern, in denen die Menschen sich schon ewig kannten und alles voneinander wussten, aber Elvet deprimierte sie. Es lag an der flachen Landschaft, dem schlickfarbenen Boden, dem ständigen Wind. Kein Wunder, dass Christopher Winter nicht gern zurückgekommen war, nachdem er dem einmal hatte entfliehen können. Was hatte ihn dazu gebracht, überhaupt hierherzukommen? Er war ja nicht für ein besonderes Familienfest herzitiert worden. Er hätte wegbleiben können.
    Auf dem Bürgersteig lag ein Hundehaufen, und Michael nahm kurz ihren Arm, um sie drum herum zu führen. Leute, die sie nicht kannten, hätten sie für ein Ehepaar halten können. Schlurfend und zänkisch und doch voneinander abhängig. Sie rückte von ihm ab, und sie gingen in einiger Entfernung die Straße hinunter, schweigend.
    Auf dem Friedhof gab es keine alten Gräber. Er musstegegründet worden sein, als der Kirchhof voll war. Die Sonne war verschwunden, und der Wind blies kälter denn je, er rupfte an den letzten abgestorbenen Blättern der Maulbeerbäume, riss sie in Fetzen, bis bloß noch die Stiele und Blattadern übrig blieben.
    «War Christopher vor Ihnen hier?», fragte Vera.
    «Unmöglich. Ich hätte an ihm vorbeigehen müssen, um zu meiner Peg zu kommen.»
    «Haben Sie gesehen, woher er kam?»
    Michael schüttelte nur den Kopf. Dieser Ort schien ihm die Lebensgeister geraubt zu haben. Vera blieb einen Moment stehen und sah sich um. Hinter der Steinmauer erstreckte sich auf drei Seiten offenes Land voller Grasbüschel, auf dem Schafe weideten. Auf einem Feld lag ein totes Tier. Zu klein für ein Schaf, wahrscheinlich ein Kaninchen. Die Krähen hatten es gefleddert, es waren nur noch Knochen und ein Stück Fell. Die Mauer war zu hoch, um darüberzuklettern, ohne Aufsehen zu erregen. Christopher Winter musste durch das Tor gekommen sein.
    «Zeigen Sie mir bitte, wohin dieser Weg hier führt», sagte sie und machte das Tor auf, um ihn hinauszulassen. «Kann man bis zum Ende mit dem Auto fahren?»
    «Aye, ein paar Leute haben im Sommer ihre Boote dort unten liegen, und es gibt einen kleinen Parkplatz für die, die am Flussufer spazieren gehen wollen. Sollen wir zurückgehen und Ihr Auto holen?»
    «Ist es denn weit?»
    «Höchstens eine halbe Meile.»
    «Dann gehen wir zu Fuß, ja?» Sie überlegte, dass sie Joe Ashworth Bescheid sagen sollte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis sie aufs Revier kämen, aber als sie auf ihr Handy schaute, hatte sie kein Netz. Der Weg war schnurgerade, auf der einen Seite wuchs eine dürftigeWeißdornhecke, und auf der anderen lag ein von dunklem Schilf gesäumter Graben, in dem Wasser stand. Die Weißdornbüsche hatten knotige Stämme, die mit Flechten und vereinzelten Beeren überzogen waren. Ein paar Rotdrosseln jagten die Hecke entlang und drehten ruckartig auf das dahinterliegende Feld ab. In der Ferne sah man ein von einem Friedhof verrottender Landmaschinen umgebenes Bauernhaus.
    «Wer wohnt da?», fragte sie.
    «Jetzt niemand mehr. Cyril Moore ist vor ein paar Wochen gestorben. Irgendjemand hat gesagt, dass es verkauft wurde. Sie wollen eine Reitschule draus machen. Die Landwirtschaft bringt heutzutage kein Geld mehr.»
    Als sie am Fluss ankamen, herrschte Ebbe. Vor ihnen lag eine endlose Fläche aus Sand und Schlick, die sich fast bis zur Küste von Lincolnshire zu erstrecken schien. Eine Wolke kleiner

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