Opferschuld
wusste, dass sie ohne Alkohol kein Auge zutun würde. Sie musste nur den Punkt erreichen, an dem ihre Gedanken losließen und unscharf wurden. Am nächsten Morgen fühlte sie sich dann wattig und hatte Kopfweh. Und genauso ging es ihr jetzt. Nachdem sie am Abend zuvor ins Hotel gekommen war, hatte sie nämlich noch weitergetrunken.
Aus einem der Häuser der Rettungsbootsmänner drang der Geruch nach gebratenem Speck, und sie ging schnell vorbei. Lieber wollte sie Salz und Seetang in der Nase spüren. Hinter den modernen Häusern der Männer vom Rettungsboot lagen zwei schlichte weiße Cottages, die früher einmal die Männer von der Küstenwache beherbergt hatten und in denen jetzt die Steuermänner wohnten. In einem davon war Jeanie Long aufgewachsen, und Michael hatte seine Frau dort gepflegt, bis sie starb.
Aus dem Cottage, das dem Meer am nächsten lag, kam eine Frau. Sie hatte die Uniform eines Steuermanns an, aber das Hemd war am Kragen nicht zugeknöpft, und sie ging auch nicht zur Anlegestelle, wo das Lotsenboot vertäut war. Sie hatte eine weiße Emailleschale bei sich, lief um das Cottage herum zu einem weißgetünchten Schuppen und kam zurück, die Schüssel halb voll mit sandigen Kartoffeln.
«Noch etwas früh fürs Mittagessen», sagte Vera.
Die Frau blieb stehen. Offenbar hatte sie nichts dagegen, ein bisschen zu plaudern. «Ich arbeite fast den ganzen Tag. Da kann ich sie auch jetzt schon schälen.» Und mit einem kleinen Augenzwinkern fügte sie hinzu: «Ich bekomme Besuch zum Essen.» Und: «Mein Dad hat einen Schrebergarten. Er versorgt mich mit Gemüse.»
«Es geht doch nichts über selbstangebautes Gemüse.»
«Das sagt er auch immer.»
Vera zog ihren Polizeiausweis hervor. «Ich untersuche den Mord an Abigail Mantel. Haben Sie ein bisschen Zeit für mich? Die Kartoffeln können Sie ja schälen, während wir uns unterhalten.»
«Ach was», sagte sie. «Ich bin froh, wenn ich eine Ausrede habe, um einen Kaffee zu trinken. Kommen Sie doch rein.»
Sie hieß Wendy Jowell. Der erste weibliche Steuermann auf dem Humber, sagte sie. Das sei nicht das Gleiche wie ein richtiger Lotse. Sie fahre nur mit dem Boot hinaus, um den Lotsen vom Schiff zu holen, wenn er es aus dem Fluss herausgebracht habe, oder bringe ihn zum Schiff hin.
«Und die Lotsen?», fragte Vera. «Das sind alles Männer, oder?»
«Na klar. Da gibt’s schließlich auch das dicke Geld.»
Sie lachten. «Früher», sagte Vera, «hat es bei der Polizei auch keine Frauen gegeben. Jedenfalls nicht über den Rang eines Sergeant hinaus. Die Zeiten ändern sich.»
«Ich weiß nicht mal, ob ich gern Lotse wäre. Zu viel Verantwortung. Zu viel Druck. Ich mag meinen Job.»
«Kennen Sie Michael Long?»
«Als ich noch in der Ausbildung war, ist er ein paarmal mit mir rausgefahren. Hat sich ziemlich angestellt, der elende Mistkerl. Es wollte ihm nicht in den Kopf, wie man eine Frau steuern lassen kann. Als er in Rente ging, habe ich seine Stelle übernommen. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Nach Pegs Tod hat er sich eingeigelt.»
«Wohnten Sie schon hier in der Gegend, als Abigail Mantel umgebracht wurde?»
«In Elvet, in einem der Häuser von der Gemeinde. Da war ich noch verheiratet. Kurz danach habe ich Vernunft angenommen.»
«Kannten Sie Jeanie?»
«In einem so kleinen Ort kennt man die meisten. Zumindest so, dass man sich grüßt. Sie hat manchmal im
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gearbeitet. Vielleicht waren wir ja sogar zusammen in der Schule, aber das weiß ich nicht. Sie muss jünger gewesen sein als ich.»
«Was hielten Sie von ihr?»
«Ich mochte sie. Manche Leute haben gesagt, sie wäre eingebildet, bloß weil sie ihren Abschluss hatte und auf die Uni ging. Ich glaube, sie war bloß schüchtern. Im Pub hat man gesehen, dass sie es nicht ausstehen konnte, wenn die Kerle dreckige Witze rissen und der perverse Barry sie nur so angeglotzt hat. Doch sie hat gute Miene dazu gemacht. Das fand ich stark. Aber sie war an so was nicht gewöhnt. Sie hatte zwar studiert, aber trotzdem hätte man sie noch für ein Kind halten können. Und mit Michael Long als Vater – das kann auch nicht gerade lustig gewesen sein.»
«Wieso nicht?»
«Er ist nicht der Einfühlsamste, unser Michael. Ein ungehobelter Yorkshire-Kerl und auch noch stolz drauf. Tief in dem steckt ein Rowdy.»
«Ist er gewalttätig?»
«Nicht dass ich wüsste. Aber aggressiv ist er. Vor allem, wenn er was getrunken hat. So wie er heute redet, könnte man glauben, dass zwischen ihm und
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