Opferschuld
Watvögel, die sich insektengleich zu einem Schwarm zusammengefunden hatten, erhob sich wie eine Windhose über ihren Köpfen und landete dann wieder auf dem Schlick. Der Rumpf eines zusammengeschusterten Boots lag kieloben am Ufer und verfaulte. Es gab einen behelfsmäßigen Parkplatz mit einem roten Telefonhäuschen, einem Schwarzen Brett, auf dem einst gestanden haben mochte, wie man die Küstenwache erreicht, das aber bis zur Unkenntlichkeit ausgeblichen war, und einem weißen Holzpfosten, an dem ein Rettungsring hing.
«Das ist alles?», fragte Vera. Sie hatte Hunger und fror und dachte, dass sie hier völlig umsonst herumsuchte.
«Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich mir nicht vorstellen kann, was er hier gewollt hat.»
«Ja, das haben Sie.» Sie schaute wieder auf ihr Handy. Es versagte ihr immer noch den Dienst.
Sie waren schon wieder am Rand des Dorfes angelangt,als es ihr plötzlich klarwurde. Sie spielte jenen Morgen auf dem Friedhof im Kopf noch einmal durch, versuchte, das Geschehen zum Leben zu erwecken. Christopher Winter war bei Emma gewesen. Er war die ganze Nacht aufgeblieben und hatte getrunken, bis er vor Selbstmitleid zerfloss, und dann beschlossen, Abigails Grab einen Besuch abzustatten. Und dann? Dann hatte er jemanden angerufen. Um ihn oder sie des Mordes an Abigail zu beschuldigen? Eine Erklärung zu verlangen? Unterstützung? Hilfe? Wenn er es mit dem Handy versucht hatte, war es wahrscheinlich eine Nummer, die er im Kopf hatte oder die schon im Telefon gespeichert war. Es war also jemand, den er kannte, oder eine Nummer, die er vorher herausgesucht hatte. Was aber, wenn das Handy nicht funktioniert hatte? Vielleicht war das hier ja eins dieser schwarzen Löcher, die Handysignale verschlucken. Gut möglich, dass der Junge mit dem wütenden Gerede, das Michael gehört hatte, nur seinem Frust über die Grenzen der Technik hatte Luft machen wollen. Was hätte er dann getan? Sicher hätte er eine Telefonzelle gesucht. Das nächste öffentliche Telefon war das am Parkplatz beim Fluss. Das hätte er gewusst. Als Junge hatte er sich bestimmt überall am Ufer herumgetrieben.
Vera blieb abrupt stehen, und Michael sah besorgt zu ihr hinüber. «Alles in Ordnung?»
«Gehen Sie zurück nach Hause und rufen Sie diese Nummer hier an. Die ist von meinem Sergeant, Joe Ashworth. Beschreiben Sie ihm den Weg zum Parkplatz am Flussufer und sagen Sie ihm, dass er mich dort so schnell wie möglich treffen soll. Sagen Sie, dass es dringend ist.»
«Was haben Sie vor?»
«Das geht Sie nichts an», sagte sie und winkte ihm zu, um dem Hieb die Schärfe zu nehmen. Was würde sie sagen, selbst wenn sie ihm vollkommen vertraute? Ich werde mirden Arsch abfrieren und ein stinkendes Telefonhäuschen bewachen, falls irgendjemand auf die Idee kommen sollte, eventuell dort noch vorhandene Fingerabdrücke von Winter zu überdecken. «Hatte der Junge Handschuhe an, als Sie ihn auf dem Friedhof gesehen haben?»
«Nein», sagte Michael. «Ich dachte mir noch, dass ihm die Kälte zusetzen muss.»
Als Ashworth eintraf, nahm Vera sein Auto und ließ ihn zurück, damit er auf die Spurensicherung wartete. Als er dann vom Parkplatz wiederkam, saß sie in dem Café neben der Bäckerei und hatte ein Wurstbrötchen und ein Eclair intus. Die im Café residierenden Zeitungsleute gingen offenbar gerade einem anderen Hinweis nach, denn sie hatte den Raum ganz für sich allein. Es war warm, und sie merkte, wie sie einnickte. Sie wusste, dass sie von größerem Nutzen wäre, wenn sie Michael aufs Revier brachte und ihn seine Aussage machen ließ, aber sie war neugierig.
«Nun?»
Ashworth setzte sich ihr gegenüber und beugte sich vor, damit die Angestellten nicht mithören konnten. «Er hat ein paar hübsche Abdrücke gefunden. Einen am Hörer und einen am Türgriff innen. Sie werden sie auf eine Übereinstimmung hin untersuchen.»
«Die Abdrücke könnten aber doch von jedem sein. Ich meine, ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass die Leute Schlange stehen, um das Telefon zu benutzen, aber es könnte doch in den letzten paar Tagen nochmal benutzt worden sein. Trotzdem würde es sich lohnen nachzuprüfen, ob an dem betreffenden Morgen jemand von dort aus angerufen hat.»
«Wie man’s nimmt», murmelte er.
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Es ist kaputt. Nach Auskunft der Telefongesellschaftschon seit mindestens vierzehn Tagen, aber weil es in dieser Jahreszeit so selten benutzt wird, hatte die Reparatur keinen
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