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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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nicht?»
    «Er sagte, er könne es nicht ertragen, sie um sich zu haben.» Robert blickte vom Tisch hoch. «Deshalb fühlte er sich so schuldig. Deshalb musste er mir die Schuld geben. Er hat seine eigene Tochter für eine Mörderin gehalten.»

Kapitel sechs
    Michael schlüpfte durch die Kirchentür nach draußen und blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Er zitterte. Der Regen peitschte direkt in das offene Portal. Er stach ihm ins Gesicht, und der graue Stoff seines Anzugs sog jeden Tropfen auf, so wie die Fasern von Robert Winters weißem Chorhemd den Abendmahlswein aufgesogen hatten. Michael zwängte sich in die Regenjacke, die er über dem Arm trug, und ging durch den tosenden Sturm in Richtung Straße. Der Gottesdienst würde bald vorbei sein. Die ganzen alten Hexen dadrinnen würden auf dem Weg zum Kaffee im Gemeindesaal hier vorüberkommen, und er hatte nicht vor, sich von ihnen anstarren zu lassen.
    Im Mund und auf den Lippen schmeckte er noch die Süße des Abendmahlsweins, und auf einmal hatte er das dringende Bedürfnis, den Geschmack wegzuspülen und etwas Richtiges zu trinken. Vor dem
Anchor
zögerte er kurz. Er war schon seit Jahren nicht mehr dadrinnen gewesen, und doch spürte er die Versuchung. Aber es würde gerammelt voll sein, lauter Männer, die sich die Zeit vertrieben, bis zu Hause das Sonntagsessen auf dem Tisch stand, und er wollte niemanden treffen, den er kannte. Er war sich nicht sicher, dass er nicht ausfällig werden würde. Noch immer spürte er die unbändige Wut in sich, die ihn überwältigt hatte, als Winter ihm den Kelch reichte. Er war nicht gerade stolz auf die Szene, die er gemacht hatte, aber wenn er ihn nicht angespuckt hätte, hätte er ihn niederschlagen müssen. Auch jetzt noch hätte er am liebsten jemanden geschlagen.
    Es war keine gute Idee gewesen, den Gottesdienst zu besuchen. Das erkannte er jetzt. Was immer er sich davon erhofft hatte, er war enttäuscht worden. Peg war diejenigegewesen, die gern in die Kirche ging, nicht er. Er hatte es schon immer für eine schwachsinnige Veranstaltung gehalten. Erwachsene Männer in Kleidern. Was hatte er denn erwartet? Jeanies Stimme, die aus dem Gebälk herabschwebt: «Es ist alles in Ordnung, Dad, ich verzeihe dir»?
    Seit er nach Pegs Tod von der Landspitze weggezogen war, wohnte er in einer kleinen Bungalowsiedlung, die der Gemeinde gehörte, gleich hinter der Kirche. Die Reporter, die schon am Morgen da gewesen waren, standen noch immer an der Ecke, brüllten ihre dämlichen Fragen und wedelten mit ihren Mikrophonen. Er beachtete sie gar nicht und öffnete die Tür gerade so weit, dass er hineinschlüpfen konnte. Er wollte nicht, dass sie ins Haus sahen. Wie jedes Mal, wenn er hereinkam, fiel ihm auf, wie klein und eng es doch war. Wie dunkel. Das war einer der Gründe, weshalb er nicht gern nach draußen ging. Bei der Rückkehr war es jedes Mal, als würde er in eine Gefängniszelle gesperrt. Grauenvoll.
    Ihm war nicht klar gewesen, dass das Gefängnis Jeanie so zugesetzt hatte. Natürlich findet es niemand toll dort, aber er hatte nicht gedacht, dass das Eingesperrtsein Panik bei ihr auslösen würde. Sie war nie gern draußen gewesen. Schon in einem kleinen Boot war sie ganz verängstigt gewesen, selbst wenn das Meer vollkommen ruhig war und sie eine Schwimmweste trug. Sie blieb lieber im Haus, mit ihrer Musik. Und Musik hatte sie im Gefängnis auch gehabt, sie hatten ihr einen Kassettenrecorder mitgebracht und einen Haufen Kassetten. Ihre Musik war alles, was sie wirklich brauchte – so war es ihm und Peg jedenfalls vorgekommen, als sie noch ein junges Mädchen war. Doch sie hatte ihre Eltern abgewiesen, ausgeschlossen, dabei hatten sie sie doch großgezogen. Sie aber hatte die Eltern fallengelassen, sobald sie ihr nicht mehr nützlich waren.Dann hatte sie sich aufgehängt, und er fragte sich, wie er hatte glauben können, das Gefängnis würde ihr nicht zusetzen. Wie er sich so hatte irren können: darin und in anderem.
    Er versuchte, nicht daran zu denken. Wenn Jeanie das Gefängnis so sehr gehasst hatte, wie er dieses Haus hier hasste, musste es ein Albtraum für sie gewesen sein. Was immer sie auch getan hatte, diesen Gedanken konnte er nicht ertragen, und er suchte verzweifelt nach jemandem, dem er die Schuld geben konnte, auch wenn er wusste, dass das Unfug war. So war er auf Winter gekommen, den Weltverbesserer, der sich aufspielte wie ein Pfarrer. Der bot sich ja geradezu an.
    Im Küchenschrank stand eine

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