Opferschuld
hatte die Frage auf sie abgefeuert, ohne höfliche Einleitung oder Vorgeplänkel.
«Nicht dass wir wüssten.»
«Es ist eine Schande», sagte Barry, und Emma wusste nicht, ob er den Mord für eine Schande hielt, die Unfähigkeit der Polizei, einen Verdächtigen zu finden, oder den Mangel an Kommunikation.
Einer der Dartsspieler, der für die nächste Runde an die Bar getreten war, murmelte zustimmend.
«Die gehen auf mich», sagte James. «Ihr wisst schon, in Erinnerung an Chris.»
Eine halbe Stunde später herrschte ein solcher Lärm, wie Emma ihn sich nur wünschen konnte. Die Jugendlichen hatten sich etwas aus der Jukebox ausgesucht, und in der Bar nebenan lief Fußball auf einem Großbildschirm. Die gelegentlichen Jubelrufe und das Aufstöhnen übertönten selbst die Musik.
Sie saß am Fenster und plauderte mit einer der Freundinnen der Rettungsbootsmänner. Mit ihr war sie auch zur Schule gegangen. Sie hörte, wie die Frau über ihren neuen Kerl sprach, über die stürmische Romanze und einen Heiratsantrag, aber die ganze Zeit spürte sie, dass James an der Bar stand und zu ihr herübersah. Was will er nur von mir?, dachte sie. Was will er mir sagen?
Dann ging die Tür auf, und Michael Long kam herein. Er ließ die Tür hinter sich zuschlagen, aber es herrschte ein solcher Lärm, dass niemand groß Notiz davon nahm. Erstolzierte zur Bar. Emma konnte nicht hören, was gesagt wurde, aber sie nahm an, dass James den Mann auf ein Bier einlud. Sie glaubte, dass Michael bereits getrunken hatte. Er sah zerzaust aus und war wacklig auf den Beinen.
«Sie haben vielleicht Nerven.»
Sie konnte nur diese Worte verstehen und spürte die Feindseligkeit deutlich in der Luft hängen, wie einen Geruch. Entsetzt sah sie weiter zu. Das Geplapper neben ihr plätscherte dahin. James hatte ihn offenbar nicht verstanden und musste Michael gebeten haben, es zu wiederholen.
Michael machte den Mund weit auf und brüllte über den Krach hinweg, sodass alle es hörten: «Ich sagte, Sie haben verdammt nochmal vielleicht Nerven.»
Die Gespräche verstummten. Die Platte in der Jukebox war zu Ende, und niemand wählte eine neue aus. Von der Bar nebenan hörte man spöttischen Beifall, als ein Elfmeter verschossen wurde. Michael gefiel es anscheinend, im Mittelpunkt zu stehen. Mit einer theatralischen Geste wandte er sich ihnen allen zu. «Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, dann würdet ihr nicht mit dem da trinken.»
Veronica lehnte sich über den Tresen. «Dir geht’s nicht gut, mein Lieber. Vielleicht solltest du besser heimgehen.»
Michael schien sie gar nicht zu hören. «Wisst ihr, mit wem ihr da trinkt? Wisst ihr das? Ihr denkt alle, ihr wisst, wer er ist, nicht wahr? Familienvater, Lotse, Kirchgänger. Tja, sein ganzes Leben ist eine Lüge. Selbst der Name ist erfunden.» Michael sprach jetzt leiser, fast als wären er und James allein in einem kleinen Zimmer, aber Emma konnte ihn hören. An der Bar war es still. Alle sahen zu, hörten zu. Er musste nicht mehr schreien. «So sollte es nicht ablaufen. Ich war dabei, noch mehr Beweise zu sammeln, und dann wollte ich zu der Kommissarin gehen. Aber ich konnte eseinfach nicht ertragen, Sie hier drinnen zu sehen, wie Sie lachen und reden. Wie Sie allen leidtun.»
«Inspector Stanhope weiß bereits Bescheid», sagte James. «Ich habe es ihr erzählt.»
Einen Moment lang schien Michael das nicht zu begreifen. Er starrte mit offenem Mund, einen Speichelfaden auf der Unterlippe, vor sich hin und versuchte, sich einzureden, dass James log.
«Wieso hat sie Sie dann nicht verhaftet?»
«Ich habe nichts verbrochen. Es ist nicht verboten, seinen Namen zu ändern.»
«Aber Sie waren mit Mantel befreundet. Ich habe Fotos gesehen. Sie beide zusammen, und Sie lächeln.»
«Mein Vater war mit Mantel befreundet», sagte James. «Ich hatte nie etwas mit ihm zu tun.»
Michael schüttelte den Kopf, als könnte er seine Gedanken nur gewaltsam klar bekommen. «Sie haben das Mädchen umgebracht und dafür gesorgt, dass meine Jeanie eingesperrt wird.» Seine Stimme klang verzweifelt. «Sie müssen was damit zu tun haben. Warum sollten Sie mit so einer Lüge leben, wenn Sie nichts zu verbergen haben?»
«Ich habe Grund genug, Keith Mantel zu hassen», sagte James, «aber seine Tochter habe ich nicht umgebracht.»
Veronica war hinter dem Tresen hervorgekommen, und jetzt trat sie auf Michael zu und legte ihm den Arm um die Schultern. «Du bist nicht du selbst, mein Lieber. Kein Wunder, nach
Weitere Kostenlose Bücher