Opferschuld
Sesseln.
«Was geht Sie Jeanie an?», hatte Michael gefragt. Daran erinnerte er sich noch. Er hatte sein Gesicht heftig vorWinters Gesicht geschoben, in der Hoffnung, in ihm die gleiche Panik auszulösen, die er selbst an der Tür empfunden hatte. «Was geht Sie Jeanie an?»
«Ich bin ihr Bewährungshelfer», sagte Winter. «Ich muss einen Bericht schreiben.»
«Sie hat aber keine Bewährungsstrafe gekriegt. Sie hat lebenslänglich. Und damals sind genug Berichte geschrieben worden.»
Zu viele Berichte und zu viele Gutachten. Alle hatten in ihren Privatangelegenheiten herumgeschnüffelt. Wollten jemanden finden, den sie dafür verantwortlich machen konnten, was Jeanie getan hatte. Peg und er hatten die natürlich nie zu lesen bekommen. Auch davon wurden sie ausgeschlossen. Aber er ahnte schon, dass sie beide darin auftauchten. Es lag doch immer an den Eltern, oder etwa nicht? In den Gutachten stand bestimmt, dass sie Jeanie nie verstanden hätten, dass sie ihr nicht das gegeben hätten, was sie brauchte. So viel konnte er aus dem, was vor Gericht gesagt wurde, erschließen.
«Das hier ist was anderes», sagte Winter. Er sprach so, wie überhebliche Lehrer mit begriffsstutzigen Kindern sprechen. Geduldig, aber als wäre es ein wahrer Kraftakt, diese Geduld aufzubringen. Und er wäre ein Heiliger, dass ihm das gelang. «Jeanie könnte bald auf Bewährung entlassen werden. Dann wäre es meine Aufgabe, ihr die Wiedereingliederung zu erleichtern und sie zu betreuen.»
«Die denken doch nicht etwa daran, sie freizulassen?»
«Finden Sie denn nicht, dass das richtig wäre?»
«Es kommt mir nicht vor, als wäre sie schon lange eingesperrt. Nach dem, was sie dieser Kleinen angetan hat …»
«Sie sagt immer noch, dass sie unschuldig ist …» Er hielt inne, als würde er eine Reaktion von Michael erwarten. Michael starrte auf das kleine Fenster, dessen Tüllgardinedie Sicht nach draußen verdeckte. Es gelang ihm einfach nicht, sich vorzustellen, dass seine Tochter bald frei sein könnte.
«Ich fürchte allerdings, dass es ihrem Gesuch auf Bewährung nicht förderlich sein wird, wenn sie weiter auf ihrer Unschuld beharrt. Strafgefangene sollten sich ihren Verfehlungen stellen und ihre Taten bereuen. Ich habe versucht, ihr das klarzumachen.»
«Ich nehme nicht an, dass Bereuen zu ihren Stärken gehört.»
«Mr Long, ich betreue diesen Fall erst seit kurzem.» Winter beugte sich vor, sodass Michael seinen Atem riechen konnte, Pfefferminz, das irgendetwas Scharfes vom Vorabend überdecken sollte. Eine durchzechte Nacht aber nicht. Winter war sicher kein Trinker. Dafür steckte nicht genug Leben in ihm. «Es steht allerdings nirgendwo, dass Sie Ihre Tochter besucht hätten.»
«Peg hat sie besucht, bevor sie zu krank dafür wurde.» Die Worte rutschten heraus, ehe Michael sie aufhalten konnte, obwohl er sich geschworen hatte, Winter nichts zu erzählen. An den Besuchstagen hatte er seine Frau gefahren, hatte sie immer direkt vor dem Gefängnistor abgesetzt, denn es stürmte jedes Mal, wenn sie dorthin fuhren, der Regen fiel fast schon waagerecht. Dann war er mit dem Auto auf den Besucherparkplatz gefahren und hatte, die Zeitung ungelesen vor sich auf dem Lenkrad, gewartet, bis die Leute wieder herausströmten. Er fand es überraschend, wie normal sie aussahen, die Eltern und Ehemänner der eingesperrten Frauen. Aus der Entfernung gelang es ihm nicht, Peg unter ihnen auszumachen.
«Und Sie nicht?» Winter sprach noch immer mit geduldiger Stimme, doch sein Blick war voller Abscheu und Geringschätzung.
«Mantel auch nicht», sagte Michael. «Er hat sie auch nie besucht.»
«Das ist ja wohl kaum dasselbe, Mr Long. Er ist davon überzeugt, dass sie seine Tochter umgebracht hat.»
Daraufhin wandte Michael sich ab. Er wusste, dass Winter recht hatte, und konnte doch die Verachtung in seinen Worten nicht ertragen.
«Er hat Jeanie gesagt, dass er sie liebt», sagte er leise. Ein vergeblicher Versuch, sich aufzulehnen. Dann fasste er sich: «Haben Sie eine Tochter, Winter?»
«Das tut nichts zur Sache, denke ich.»
«Aye, natürlich haben Sie eine Tochter.» Etwas in Winters Gesicht verriet es ihm. «Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn Ihre Kleine so was täte? Ein Kind erwürgen, bloß weil es zwischen ihr und ihrem Liebhaber steht. Meinen Sie, Sie würden weiter zu ihr halten? Ihnen würde es nichts ausmachen, sie an so einem Ort zu besuchen?»
Winter zögerte einen Augenblick, und Michael verspürte
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