Opferschuld
ein kurzes Triumphgefühl. Dann sprach der Bewährungshelfer weiter, mit seiner frommen Stimme, für die Michael ihm am liebsten eine reingehauen hätte: «Bestimmt würde ich das Verbrechen verabscheuen, Mr Long, aber die junge Frau, die es begangen hat, würde ich nicht verabscheuen.» Er stellte seine Tasse ab und sagte unvermittelt: «Kommen wir zu der Bewährung.»
«Was ist damit?»
«Der Bewährungsausschuss müsste wissen, dass es einen Ort gibt, an den sie zurückkehren kann. Wo sie Unterstützung findet.»
«Fragen Sie mich etwa, ob sie zu mir kommen kann?»
«Ich weiß, dass das schwer für Sie wäre, aber es wäre ja nur für eine kurze Zeit, bis sie woanders etwas Geeignetes gefunden hat.»
«Haben Sie auch nur ein Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe, Mann?» Michael merkte, dass er schrie. «Sie hat diese Kleine umgebracht, und das hat meine Frau umgebracht. Wie soll ich da noch mit ihr unter einem Dach leben?»
Nur dass es jetzt ganz so aussah, als hätte sie Abigail Mantel gar nicht umgebracht. Während er da saß, an einem verregneten Sonntag nach der Kirche, ohne jeden Halt, abgesehen von dem Rest Whisky, drehten sich seine Gedanken immer nur im Kreis. Es war zu viel für ihn, er konnte das alles nicht begreifen, nicht auf einmal. Wenn Jeanie keine Mörderin gewesen war, was war er dann für ein Ungeheuer? Er hatte sie abgewiesen. Draußen dunkelte es, aber er saß nur da. Erst als das Band mit dem Glockenläuten im Kirchturm wieder ansprang, kratzend und rauschend, um den Abendgottesdienst anzukündigen, und er wusste, dass die Leute vorübergehen würden, stand er auf, zog die Vorhänge zu und machte das Licht an.
Kapitel sieben
Am nächsten Morgen wachte Michael wie üblich schon vor sechs Uhr auf. Das würde er sich jetzt auch nicht mehr abgewöhnen. Er war süchtig danach, etwas zu tun zu haben. Als Steuermann auf dem Lotsenboot hatte er in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet, und selbst wenn er die ganze Nacht Bereitschaftsdienst gehabt hatte, konnte er tagsüber nicht schlafen. Die erzwungene Untätigkeit seines Ruhestands versetzte ihn in Panik. Jeanie war ein Faulpelz gewesen. An manchen Tagen war sie stundenlangin ihrem Zimmer geblieben, und wenn er sie fragte, was sie da mache, sagte sie, sie arbeite. Für ihn sah das nicht gerade nach Arbeit aus. Ab und zu ließ sie ihre Zimmertür einen Spalt weit offen, und er spähte hinein. Sie lag auf dem Bett, bisweilen noch nicht einmal angezogen, es lief Musik, und sie hatte die Augen geschlossen. Er mochte Musik durchaus, eine Blaskapelle oder Marschmusik, eine flotte Melodie, die Songs aus den alten Musicals, aber so etwas lief bei ihr nie. Meist war es Streichmusik oder Klavier, irgendetwas Hohes, Schrilles, was in ihm den Wunsch weckte, pinkeln zu gehen. «Pipi-Musik» nannte er es ihr gegenüber immer spöttisch, und sie blickte nur leer und kühl vor sich hin. Er wusste nicht, weshalb ihre Untätigkeit ihn so aufregte, aber es war so. Er wollte schreien und auf Jeanie einschlagen. Das tat er nie, und die Wut und Verbitterung verpufften dann auch wieder. Nur Peg wusste, dass er so empfand.
Vielleicht hätten sie besser kein Kind haben sollen. Sie waren doch glücklich gewesen zu zweit. Zumindest er war glücklich gewesen, er hatte nie erfahren, was Peg wirklich darüber dachte. Oder vielleicht war er zu alt gewesen, als Jeanie dann auf die Welt kam, zu festgefahren in seinen Gewohnheiten. Aber er fand, dass er seine Tochter anständig behandelt hatte. Er wusste nicht, was er hätte anders machen sollen. Er hatte den Musikunterricht bezahlt, sie Woche für Woche in die Stadt gefahren, dem Kratzen der Geige zugehört, den endlosen Tonleitern auf dem Klavier, das Pegs Mutter gehört hatte. Auch Peg hatte Klavier gespielt. Wenn sie Freunde eingeladen hatten, gab sie nach ein paar Brandys etwas zum Besten. Immer waren es Stücke, die in die Zeit ihrer Eltern gehörten, alte Bühnenmelodien, aber alle stimmten mit ein, dachten sich einen Text aus, was ihnen gerade einfiel, und brachen in Lachen aus,noch bevor sie zu Ende gesungen hatten. Er konnte sich nicht erinnern, Jeanie jemals so lachen gesehen zu haben, nicht einmal, als sie noch ganz klein war.
Dagegen hatte diese Mantel-Tochter noch ein bisschen Leben im Leib gehabt, ein bisschen Temperament. Das hatte er bei dem Sonntagsessen gemerkt, zu dem sie auf der Landspitze alle zusammengekommen waren. Man erkannte es daran, wie sie den Kopf in den Nacken warf. Sie wollte,
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