Opferschuld
gehört, dass die Polizei den Fall Abigail Mantel wieder aufrollen will. Jeanie hat davon nichts gewusst. Sehen Sie, es gab ja noch nichts Offizielles. Nichts, was wir zu diesem Zeitpunkt hätten tun können. Aber ich dachte, Sie sollten es wissen.» Im Flur blieb er kurz stehen. «Möchten Sie Ihre Tochter noch einmal sehen, Mr Long? Wenn Sie wollen, kann ich das arrangieren.»
Einen Augenblick lang war Michael versucht, ja zu sagen. Dann dachte er: Dazu habe ich kein Recht. Ich wolltesie nicht sehen, als sie noch am Leben war. Welches Recht habe ich, mich ihr jetzt aufzudrängen?
Wortlos schüttelte er den Kopf.
Der Mann bückte sich im Gehen, er war so groß, dass er sich sonst womöglich den Kopf am Türsturz gestoßen hätte. Michael sah ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging, der leuchtend rot war und ziemlich sportlich, und dachte, dass er sich ebenso gut auch umbringen könnte. Einen Tag lang schwelgte er in Phantasien, wie er es anstellen würde – sich erhängen wie Jeanie oder Tabletten, oder sich ertränken. Der Gedanke ans Ertränken gefiel ihm. Zu dieser Jahreszeit war das Wasser kalt, es dauerte nicht lange, bis man das Bewusstsein verlor, und irgendwie hatte es etwas Passendes, ein Bootsmann, der in den Wellen in die ewige Ruhe sank. Natürlich tat er es nicht. Das wäre Betrug gewesen. Er wollte lange genug am Leben bleiben, bis Abigail Mantels Mörder vor Gericht gestellt würde. Wenigstens das war er Jeanie schuldig.
Michael ging ins Badezimmer, wusch und rasierte sich. In den letzten Tagen hatte er das gar nicht mehr gemacht, abgesehen von gestern, vor der Kirche, aber wenn er am Leben bleiben sollte, dann musste er sich auch Mühe geben. Sich bis zum Schluss an die Spielregeln halten. Aus dem gleichen Grund legte er eine Scheibe Brot unter den Ofengrill, für das Frühstück, und zwang sich, sie zu essen.
Er trocknete gerade seinen Teller und die Tasse ab, als es an der Tür läutete. Es war erst kurz nach halb neun. Die Reinmachefrau war heute nicht dran, also ignorierte er es. Es waren bestimmt nur wieder die Zeitungsleute, irgendein Reporter, der ihm ein Vermögen für ein Bild von Jeanie und für seine Version der Geschichte bieten würde. Das Läuten dauerte an, ein schrilles Läuten, als hätte sich jemand auf den Klingelknopf gestellt. Er ging in den Flur.Durch das Milchglas in der Eingangstür sah er eine Gestalt, einen massigen Schatten.
«Verschwinden Sie», rief er. «Lassen Sie mich in Ruhe. Ich rufe die Polizei.»
Das Lärmen der Klingel hörte auf, und von draußen wurde die Klappe des Briefschlitzes aufgestoßen. Er sah einen geöffneten Mund, eine Kehle, Lippen, die sich bewegten.
«Ich bin die Polizei, Herzchen, und wenn Sie keine Lust auf eine Spritztour zur Polizeiwache haben, sollten Sie mich besser reinlassen.»
Er machte die Tür auf. Es war eine Frau. Irgendetwas an der Art, wie sie da stand, erinnerte ihn an Peg, und allein deshalb änderte er seine Meinung und war plötzlich freundlich gestimmt. Vielleicht war es ihre Üppigkeit, die die Erinnerung auslöste, die dicken Beine und der schwere, tröstliche Busen. Aber da war noch etwas. Wie sie lächelte. Sie wusste, dass er ein alter Griesgram war, doch wundersamerweise war sie ihm dennoch wohlgesinnt. Sie trat in den Flur.
«Bisschen eng hier drin», sagte sie.
Es machte ihm nichts aus. Nicht so wie bei Winter, der hereingerauscht war und so getan hatte, als wüsste er, wie es Michael ging. Sie gehörte zu den Frauen, die sagten, was sie dachten, sobald sie es dachten. Es war keine Schau, die sie für den Rest der Welt abzog.
«Ich habe Sie gestern in der Kirche gesehen», fuhr sie fort, «und bin Ihnen hinterhergegangen. Aber Sie sahen ein bisschen verstört aus, und da habe ich mir gedacht, ich warte besser einen Tag ab.»
«Kommt wahrscheinlich aufs Gleiche raus.»
«Haben Sie schon gefrühstückt?», fragte sie.
Er nickte.
«Dann ist jetzt wohl Zeit für einen Kaffee.»
«Ich habe keinen Kaffee», sagte er. «Tut’s auch ein Tee?»
«Wenn er stark genug ist. Schwachen Tee kann ich nicht leiden.»
Als er mit dem Tablett ins Wohnzimmer kam, stand sie immer noch. Er hatte eine Kanne Tee gemacht und den Teewärmer darübergestülpt, den Peg aus alten Wollresten gestrickt hatte. Und er hatte Becher mitgebracht. Er dachte, eine kleine Tasse würde vielleicht ihren Spott erregen. Sie sah sich gerade die Fotografien an, die auf einem Regal in der Nische neben dem Gaskaminofen standen. Eine Aufnahme
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