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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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Literflasche mit billigem Whisky, die mit der letzten Lebensmittellieferung aus dem Coop gekommen war. Er schenkte sich ein Glas halb voll und stürzte es mit brennenden Schlucken hinunter, dann fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Er bildete sich ein, den Wein immer noch zu schmecken, und schenkte sich ein zweites Glas ein.
    Er nahm es mit ins Schlafzimmer und zog langsam seinen Anzug aus. Zuerst legte er die Hose zusammengefaltet über die Rückenlehne des Stuhls. Aus der Tasche fiel etwas Kleingeld, doch er ließ es liegen, wo es hingefallen war. Er dachte an das Schlafzimmer im Haus auf der Landspitze, das so nahe am Meer lag, dass sich die Spiegelungen des Wassers an der Decke abzeichneten. Es war beinahe wie auf einem Boot gewesen. Ständig hatte man die Geräusche des Meeres gehört, die Rufe der Seevögel und der Stelzenläufer, die Strömung der Gezeiten auf dem steinigen Strand, das Brechen der Wellen. Das alles war selbstverständlich für ihn gewesen, bis er hierhergezogen war und an der entsetzlichen Stille in dem Bungalow fast erstickte.Die Zimmer hier waren so klein, dass er mit ausgestreckten Armen beinahe die gegenüberliegenden Wände berühren konnte. Er hätte seinen Posten als Steuermann des Lotsenboots nicht für den Ruhestand aufgeben dürfen!
    Das alles sagte sich Michael, während er in der Unterhose dastand und sich bemühte, seine Hose sauber und korrekt zu falten. Doch wenn er ehrlich war, wusste er, dass er keine große Wahl gehabt hatte. Wenn er seinen Posten auf dem Boot nicht gekündigt hätte, hätten sie ihn wegen seiner Trinkerei rausgeworfen. Als würde nicht jeder Lotse gern mal einen Kleinen heben. Wenigstens hatte er sich einen Rest Würde bewahrt, indem er selbst ging. Peg hätte das gutgeheißen. Aber er vermisste die Arbeit mit der gleichen Sehnsucht, mit der er Peg vermisste. Er vermisste die Witze mit den Lotsen und den Mädchen von der Leitstelle. Er vermisste das befriedigende Gefühl, wenn er das Boot an die Lee eines großen Schiffs brachte und ganz ruhig hielt, während der Lotse die Leiter hinunterkletterte und an Bord sprang. Es passte eigentlich nicht zu ihm, dass er einfach so aufgab, und das nagte immer noch an ihm. Er hatte die gleiche Demütigung verspürt wie an dem Tag, als Winter bei ihm aufgetaucht war und über Jeanie sprechen wollte.
    Das lag jetzt schon eine Weile zurück, aber Michael erinnerte sich noch sehr genau an die Begegnung. Wieder und wieder war er alle Einzelheiten durchgegangen. Es war wie eines jener Märchen von Riesen und Ungeheuern, die Kinder immer wieder hören wollen: beängstigend, in seiner Vertrautheit aber auch tröstlich. Und es hielt ihn davon ab, an Schlimmeres zu denken. An Jeanie, die an einem zerrissenen Bettlaken in ihrer Zelle hing. Daran, dass er seine einzige Tochter so schlecht gekannt hatte.
    Winter war also vor seiner Tür aufgetaucht. Es mussteim Januar oder Februar gewesen sein, vor einem Dreivierteljahr. Michael war nur an die Tür gegangen, weil er den Jungen vom Coop erwartet hatte, normalerweise machte er sich nicht die Mühe. Er hatte keine Zeit für Leute, die etwas verkaufen wollten oder für wohltätige Zwecke sammelten. Aber da stand nun dieser Mann. Winter. Michael hatte ihn nicht erkannt. Winter trug einen braunen Dufflecoat, wie Marineoffiziere sie im Krieg getragen hatten, aber er hatte die Kapuze weit über die Stirn gezogen, sodass er eher wie ein Mönch aussah.
    «Mr   Long», sagte er, «dürfte ich vielleicht kurz hereinkommen?»
    Michael wollte ihm schon die Tür vor der Nase zuschlagen, grummeln, dass es ihm nicht passe, doch der Mann schob sein Gesicht ganz nah an seins, sodass es Michael den Atem nahm, und sagte in ruhigem, salbungsvollem Ton: «Es geht um Jeanie.»
    Und das war das Letzte, was er erwartet hätte. Überrascht machte er einen Schritt zurück, was Winter als Aufforderung verstand einzutreten. «Ich könnte uns einen Tee kochen», sagte er.
    Michael war von der Dreistigkeit dieses Mannes so vor den Kopf gestoßen, dass er gar nichts sagte. Und wieder nahm Winter sein entsetztes Schweigen als Einladung. Er ging in die Küche, als wäre er hier zu Hause, und füllte den Kessel randvoll mit Wasser, ohne daran zu denken, wie viel Extrastrom das verbrauchen würde.
    Sie saßen in dem kleinen Wohnzimmer, das mit den wenigen Möbelstücken, die Michael aus dem Haus auf der Landspitze mitgenommen hatte, ganz voll gestellt war. Sie saßen fast Knie an Knie in den großen

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