Opferschuld
dass man sie ansah. Wenn Jeanie nur ein klein wenig mehr von diesem Mädchen gehabt hätte, dann wären sie vielleicht nicht so oft aneinandergeraten. Allerdings, dachte er, hatte es echten Streit gar nicht so häufig gegeben. Es war eher ein verdrossenes Schweigen, und Peg, die den Puffer zwischen ihnen bildete, wurde zwischen Jeanies schroffer Verbitterung und seiner Wut schier zerquetscht. Jenes Sonntagsessen war Pegs Idee gewesen: «Jeanie scheint ganz verrückt nach diesem Mann zu sein. Er ist älter als sie, aber deshalb müssen wir ja noch nichts dagegen haben, oder? Du bist auch älter als ich. Schließlich ist er ja nicht mehr verheiratet.» Er versuchte, ihr zu erklären, dass es um weit mehr ging, aber sie verstand es nicht.
Um sieben gestattete Michael es sich, aufzustehen und Tee zu kochen. Immer noch dachte er nur an Jeanie und daran, wie er sich bloß so hatte irren können. Die Wut war ihm zur Gewohnheit geworden, so wie das zu frühe Aufwachen, aber jetzt hatte er außer sich selbst niemanden mehr, gegen den er sie richten konnte. Es brachte auch nichts mehr, sich die Begegnung mit dem Bewährungshelfer heraufzubeschwören. Während das Wasser im Kessel kochte, fiel ihm der Whisky im Schrank unter der Spüle ein, und es kostete ihn große Überwindung, ihn nicht hervorzuholen. Dann hörte er Pegs Stimme. Er musste an sich halten, um sich nicht umzudrehen, denn fast hätte er geglaubt,sie wäre bei ihm in der Küche. Vor dem Frühstück trinken, Michael Long? Das hätte ich nicht geduldet. Als er den Teebeutel am Tassenrand ausdrückte, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht verrückt wurde. Was er durchmachte, würde jeden wahnsinnig werden lassen. Wie sollte er es ertragen, immer und immer wieder die gleichen Gedanken und Erinnerungen im Kopf herumzuwälzen, bis er starb? Deswegen war er auch zur Kirche gegangen. Er hatte geglaubt, dass es ein Wunder geben würde, dass, sobald er die pappige Oblate auf der Zunge liegen hatte, alles aufhören würde. Um Reue oder Vergebung ging es da gar nicht. Aber es hatte nicht funktioniert. Nichts würde je funktionieren.
Er nahm den Tee mit ins Schlafzimmer, kroch aber nicht noch einmal zwischen die zerwühlten Laken. Mit der Tasse in der einen Hand und der Untertasse in der anderen hockte er auf der Bettkante. Er hörte sich das heiße Getränk schlürfen und sah das entsetzte Gesicht vor sich, das Jeanie gezogen hatte, wenn er in der Öffentlichkeit so geschlürft hatte. Mantels Tochter hatte bloß gelacht. Das war bei dem Essen gewesen – soweit er wusste, das einzige Mal, dass Mantel einen Fuß in das Haus auf der Landspitze setzte. Nach dem Essen kochte Peg eine Kanne Tee, und er trank ihn so wie immer, nur dass er diesmal vielleicht noch lauter war, denn bevor sie kamen, hatte er schon einen Drink genommen, um sich etwas Mut zu spenden. Alle schwiegen, Jeanies Gesicht drückte Abscheu aus, dann warf Abigail Mantel den Kopf zurück und lachte los. Irgendwie brach das das Eis, und alle stimmten in das Gelächter mit ein. Sogar Jeanie brachte schließlich ein schmales Lächeln zuwege.
Der Gefängnisdirektor hatte persönlich vorbeigeschaut, um ihn über den Selbstmord in Kenntnis zu setzen. Es waretwa um diese Tageszeit gewesen, vielleicht ein bisschen später. Michael hatte gerade die Milch hereinholen wollen, als er da stand, ein großer, grauhaariger Mann in Anzug und schwarzem Mantel. Er musste sich eben zurechtgelegt haben, was er sagen wollte, denn seine Lippen bewegten sich. Der Anblick von Michael, noch im Bademantel, überraschte ihn. Doch er fing sich schnell. Man muss schon fix im Köpfchen sein als Gefängnisdirektor.
«Mr Long», sagte er. «Ich komme von Spinney Fen …»
Michael unterbrach ihn. «Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich hab’s dem anderen schon gesagt. Ich kann sie nicht hier aufnehmen.»
«Mr Long, Jeanie ist tot. Lassen Sie mich doch am besten hereinkommen.»
Und dann hatte er über eine Stunde lang in dem kleinen Wohnzimmer gesessen und erzählt, was passiert war. Dass ein Wärter gekommen war, um Jeanies Zelle am Morgen aufzuschließen, und sie gefunden hatte. Dass sie schon lange tot gewesen war, wahrscheinlich schon seit kurz nach dem Einschluss am Vorabend. Dass man nichts mehr hätte machen können. «Es tut uns allen furchtbar leid, Mr Long.» Es klang, als meinte er es auch so. Die Bombe ließ er platzen, als er sich schon zum Gehen wandte. «Mr Long, Jeanie war möglicherweise unschuldig. Ich habe
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