Opferschuld
zeigte ihn, wie er an dem Tag, an dem er ausgezeichnet wurde, neben dem Boot stand, ein breites Grinsen im Gesicht, das mehr auf das Ale zurückzuführen war, das er gekippt hatte, als auf die Medaille. Und auf einer anderen waren er und Peg an ihrem Hochzeitstag zu sehen, er so dürr wie die Afrikaner, die sie immer im Fernsehen zeigten, wenn es eine Hungersnot gab, sie ganz weich und rund, mit einem Kranz aus Seidenblumen im Haar und einem Strauß Rosen im Arm.
«Gar kein Foto von Jeanie?», fragte die Frau. «Die haben Sie doch nicht etwa an die Zeitung verkauft?»
«Das würde ich nie tun!» Er war bestürzt, dass sie ihm so etwas zutrauen konnte.
«Nein», sagte sie ruhig. «Natürlich würden Sie das nicht tun. Warum gibt’s dann keine Bilder?»
«Ich dachte, sie wäre schuldig. Die ganze Zeit über habe ich gedacht, sie wäre schuldig.»
«Das ist ja auch kein Wunder. Alle Beweise haben es nahegelegt.»
«Dann glauben Sie also auch, dass sie schuldig war?» Er konnte nicht sagen, ob er Hoffnung verspürte oder Angst.
«Nein.» Sie schwieg kurz. «Sie wissen doch, dass sie gesagthat, sie wäre in London gewesen, an dem Tag, an dem Abigail umgebracht wurde?»
«Ja. Niemand hat sie gesehen.»
«Es hat sich ein Zeuge gemeldet. Ein Student, der sie kannte. Er schwört, dass sie an jenem Tag am Bahnhof King’s Cross war. Ich habe mit dem Jungen gesprochen. Wenn der lügt, dann krieg ich einen Job als Nacktmodell auf dem Cover der Vogue.»
«Ich habe ja nicht nur gedacht, dass sie dieses Schulmädchen umgebracht hat.» Michael spürte das Bedürfnis, es zu erklären. «Ich habe ihr auch die Schuld an Pegs Tod gegeben.»
«Hat Peg denn geglaubt, dass sie den Mord begangen hat?»
Er schüttelte den Kopf. «Keine Sekunde lang. Sie hat die ganze Zeit für Jeanie gekämpft, mit den Leuten von der Zeitung gesprochen, der Polizei, den Anwälten. Es hat sie völlig aufgerieben.»
«Und Sie waren da wahrscheinlich nicht besonders hilfreich, Sie alter Dickkopf.»
Darauf wusste er keine Antwort, deshalb goss er ihnen Tee ein, nachdem er die Kanne kurz geschwenkt hatte, um sicherzustellen, dass er auch stark genug war. Sie ließ sich schwer in einen Sessel fallen. Vorsichtig stellte er den Becher auf das kleine Tischchen, das vor ihr stand, und wartete, während sie den ersten Schluck nahm.
«Perfekt», sagte sie. «Genau, wie ich ihn mag.»
Dann setzte auch er sich und wartete darauf, dass sie etwas sagte.
«Ich bin Inspector Vera Stanhope, Kriminalpolizei Northumberland. Bei einem solchen Fall holen sie jemanden von außerhalb. Frisches Blut, Sie wissen schon. Nachschauen, ob beim ersten Mal auch alles richtig gemacht wurde.»
«Damals war auch eine Frau zuständig.» Das war anfangs befremdlich für ihn gewesen. Eine Frau, die ein ganzes Team Männer leitete. Aber nachdem er ein paarmal mit ihr zu tun gehabt hatte, war ihm klar, wie sie das hinbekam.
«Stimmt.» Vera blieb ganz unverbindlich.
«Wie hieß sie noch gleich?» Er kramte in seinem Gedächtnis nach dem Namen, doch da war nur ein einziger Brei. Alles, was er erkennen konnte, war der Umriss einer Frau, die in dem Haus auf der Landspitze in der Küche saß. Durch das Fenster hinter ihr strömte das Licht einer niedrigstehenden Herbstsonne herein. Sie war sehr chic gekleidet, trug ein schwarzes Kostüm mit kurzem Rock und enggeschnittenem Blazer. Ihre Beine waren ihm aufgefallen, in einer hauchdünnen schwarzen Strumpfhose. Selbst da, als sie dachten, Jeanie wäre eine Mörderin, ertappte er sich dabei, wie er ihr auf die Beine starrte und sich fragte, wie es wohl wäre, sie zu streicheln.
«Fletcher», sagte Vera. «Caroline Fletcher.»
«Sie hat Jeanie für schuldig gehalten. Von Anfang an. Nicht, dass sie uns nicht höflich behandelt hätte. Daran habe ich es wahrscheinlich sogar gemerkt. Am Mitgefühl, wissen Sie, am Mitleid. Sie wusste, was uns bevorstehen würde, wenn es an die Gerichtsverhandlung ging.»
«Sie hat den Dienst schon vor einer Weile quittiert», sagte Vera. «Diesmal müssen Sie eben mit mir vorliebnehmen. Keine solche Augenweide, wie?»
«Aber es ist leichter, mit Ihnen zu reden.» Mit Inspector Fletcher zu reden war ihm nicht leichtgefallen. Sie hatte einen Haufen Fragen gestellt, aber er hatte das Gefühl, dass sie gar nicht richtig zuhörte, dass hinter dem höflichen Lächeln und den schimmernden Augen ihre Gedanken schon voraushasteten, um Schlussfolgerungen zu ziehen, die mit dem, was er sagte, gar nichts zu tun
Weitere Kostenlose Bücher