Opferschuld
hatten.
«Genau deswegen bin ich hier», sagte Vera. «Ich möchte, dass Sie mit mir reden.»
«Ich hätte sie auf Bewährung rauskriegen können», sagte er plötzlich. «Wenn ich gesagt hätte, dass sie zu mir kommen kann, dass ich ihr helfe. Wenn ich ihr geglaubt hätte, wäre sie noch am Leben.»
Sie stellte ihren Becher ab und sah zu ihm hoch. Um ihren Mund lag ein wütender Zug. Er dachte, jetzt würde sie auf ihn losgehen, ihm sagen, was sie von seinem mangelnden Vertrauen in seine Tochter hielt.
«Sie haben sie da nicht hineingebracht.» Sie sprach sehr langsam und besonnen, betonte jede Silbe, als würde sie den Takt in einem Musikstück vorgeben. «Das waren wir. Wir. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft und der Richter und die Geschworenen. Nicht Sie. Sie haben keine Schuld.»
Er glaubte ihr nicht, aber er war dankbar, dass sie es so sagte.
«Was wollen Sie wissen?»
«Alles», sagte sie. «Alles, was damals war.»
«Ich weiß nicht, ob ich mich an alles erinnere. Ich könnte mich irren. Bei Kleinigkeiten.»
«Nicht doch», sagte sie. «Bei Kleinigkeiten irren wir uns nie. Daran erinnern wir uns am besten.»
Kapitel acht
Der einzige andere Mensch, mit dem Michael je so hatte reden können, war Peg gewesen, und jedes Mal, wenn er sich nun unterbrach, um Vera anzusehen – um zu sehen,ob sie zuhörte oder um ihre Reaktion auf das, was er sagte, einzuschätzen –, blieb ihm fast das Herz stehen, weil er beinahe damit rechnete, die Züge seiner Frau zu sehen. Und Vera hörte wirklich zu, die ganze Zeit.
Er fing am Anfang an. «Ich habe mir nie viel aus Kindern gemacht. Ich fand, wir waren glücklich, so, wie es war, aber Peg bedeutete es eine Menge. Ich glaube, sie hätte gern eine große Familie gehabt – sie war eine von fünf Schwestern. Ihr Vater hatte einen Hof oben bei Hornsea. Als sie merkte, dass sie schwanger war, war sie ganz aus dem Häuschen. Sie hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Für sie habe ich mich gefreut, das schon, aber für mich nicht so richtig. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie alles noch schöner werden sollte.
Und dann wurde Jeanie geboren, in der Nacht einer großen Springflut. Sie war lang und dünn, schon als Baby, und hatte dichtes schwarzes Haar.»
«Wohnten Sie damals auf der Landspitze?»
«Ja, das hat zu meinem Job gehört. Und wir fanden es auch keinen schlechten Ort für ein Kind. Jeanie hatte Platz zum Rumrennen. Frische Luft. Und es ist ja auch nicht einsam da. Die Männer von den Rettungsbooten hatten auch Kinder, und als Jeanie älter wurde, brachte Peg sie nach Elvet in den Kindergarten. Aber sie hat nie viel Gesellschaft gebraucht, schon als sie noch klein war nicht. Bei ihr drehte sich immer alles um Bücher und Musik. Von Anfang an.»
Er blickte auf. «Peg hat immer gesagt, sie kommt nach mir, aber ich selbst habe das nicht so empfunden. Ich mache mir nichts aus Büchern. ‹Jeanie ist stolz und dickköpfig›, hat sie immer gesagt. ‹Von wem soll sie das denn haben?›»
«Ich habe versucht, Freunde von ihr ausfindig zu machen», sagte Vera. «Ich würde gern mit anderen Menschensprechen, die sie kannten. In der Schule muss es doch ein paar Mädchen gegeben haben …»
«Ich glaube schon, dass sie Freundinnen hatte. Mädchen aus der Schule, wie Sie sagten. Sie ist auf viele Geburtstagspartys gegangen, und im Gegenzug hat Peg die Kinder zu Kakao und Kuchen auf die Landspitze eingeladen.» Er erinnerte sich an jene Tage. Das Haus schien voll von niedlichen kleinen Mädchen in Partykleidern zu sein, die kicherten und plapperten und im Garten Fangen spielten. «Aber Jeanie hat nie richtig dazugehört. Sie hatte so etwas Feierliches an sich. Sie nahm das Leben zu ernst. Ich weiß nicht, wo sie das herhatte. Peg und ich haben immer gern gelacht.»
«Was war mit Jungs?»
«In der Schule hatte sie keinen Freund. Sie sagte, sie hätte zu viel mit den Prüfungen zu tun. Peg hat sie manchmal deswegen aufgezogen, hat gesagt, sie könnte doch nicht die ganze Zeit nur lernen. Und sie hat gesagt, todernst: ‹Aber ich lerne gern, Mum.› An der Universität hat es vielleicht Jungs gegeben, aber das haben wir nicht mitbekommen. Sie war in Leeds. Sie hat sich regelmäßig gemeldet, hat ihre Mutter jede Woche angerufen und ist hin und wieder sonntags zum Essen gekommen, aber einen Freund hat sie nie erwähnt.» Er hielt inne. «Kann schon sein, dass es da jemanden gab. Vielleicht hat sie es Peg erzählt und sie gebeten, es vor mir geheim zu
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