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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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man gleich? Der Zweck heiligt die Mittel. Das Motiv lag von Anfang an auf der Hand. Jeanie hasste Abigail Mantel, weil ihr Vater alles für sie tat und weil sie ihm eingeredet hatte, dass sie zu zweit glücklicher wären.»
    Dan sagte nichts, er schien gar nicht richtig zuzuhören. Er schaute aus dem Fenster, sodass Emma nicht erkennen konnte, was er von Veras Worten hielt.
    «Na, und dann gehen genau zehn Jahre ins Land, und der
Guardian
bringt einen kleinen Bericht über Jeanie Long. Da steht nicht, dass sie unschuldig wäre. Nicht direkt. Aber dass ihr Antrag auf Bewährung abgelehnt wurde, weil sie sich weigerte, ihre Schuld zu gestehen. Und dass sie schon vor Jahren in den offenen Vollzug verlegt worden wäre, wenn sie nicht auf ihrer Unschuld beharrt hätte. Dann ein paar Hintergründe zu dem Fall, und es wird erwähnt, dass sich nie jemand gefunden hat, der ihre Geschichte bestätigen konnte. Und als Nächstes meldet sich ein Zeuge. Dass so was passiert, glaubt einem doch keiner. Nicht nach zehn Jahren. Aber genau so ist es gewesen   …» Sie machte eine Pause. «Danny, wie heißt er nochmal?»
    Emma wusste, dass Vera den Namen des Mannes keineswegs vergessen hatte. Die Pause sollte nur die Dramatik verstärken.
    «Stringer», sagte Dan. «Clive Stringer.»
    «Clive ist mit Jeanie auf die Uni gegangen. Offenbar war er ein bisschen in sie verknallt, ist am Anfang des Studiums ein- oder zweimal mit ihr aus gewesen. Am Tag von dem Mord hat er sie am Bahnhof King’s Cross gesehen.»
    «Aber wie kann er sich nach all der Zeit daran erinnern?» Emma hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. Die Geschichte, die man sich vor zehn Jahren zusammengereimt hatte, die Geschichte, die durchaus schlüssig gewesen war, begann zu bröckeln.
    «Für ihn war das ein wichtiger Tag. Er war auf dem Weg nach Heathrow. Man hatte ihm eine Stelle an einer Uni in den Staaten angeboten, und es war sein Abflugtag. Selbst wenn man einen Zeugenaufruf gestartet hätte – er wäre gar nicht im Land gewesen. Bevor er den Artikel im
Guardian
las, wusste er nicht, dass man Jeanie des Mordes angeklagt hatte.»
    «Kann er sich nicht geirrt haben? Man sieht jemanden in der Menschenmenge, da redet man sich leicht was ein   …»
    «Ich habe mit ihm gesprochen», sagte Vera. «Der Mann steht mit beiden Beinen fest auf der Erde. Kein Typ, der sich etwas einbildet.»
    Sie sahen sich über den Tisch hinweg an. Emma wusste nicht, was sie sagen sollte.
    «Zuerst habe ich natürlich gedacht, er will nur Aufmerksamkeit erregen», fuhr Vera mit sanfter Stimme fort. «Wir haben haufenweise mit solchen Leuten zu tun. Aber er führt Tagebuch. Schon seit Kindertagen. Ich finde es ja ein bisschen traurig, wenn man sein Leben in ein paar Zeilen zusammenfasst, die man abends schnell hinkritzelt. Das Leben hat doch mehr zu bieten. In diesem Fall allerdings ist es ein Segen. Ich habe den Eintrag vom 15.   November 1994 gelesen. Wissen Sie, was da steht?
‹Jeanie am Bahnhof King’s Cross gesehen, sah bezaubernd aus in ihrem hellroten Pullover. Rot hat ihr schon immer gut gestanden.›
Wir haben das nachgeprüft. Als Jeanie an jenem Abend zum Haus ihrer Eltern zurückkam, trug sie einen roten Pullover. Die Gerichtsmedizin hat ihn an sich genommen. Natürlich haben sie nichts daran gefunden, was mit dem Mord in Verbindung gebracht werden konnte. Aber das zählte dann nicht. Angeklagt wurde sie so oder so.» Zum ersten Mal hörte Emma heraus, dass Vera wütend war, schrecklich wütend, sie brodelte vor Wut.
    Es musste Vera aufgefallen sein. Sofort setzte sie sich anders hin und lächelte wieder, um zu beweisen, dass sie nicht gefährlich war, sondern leutselig und vertrauenerweckend.
    «Ich komme aus dem Norden», sagte sie. «Mit der Kripo von Yorkshire und Humberside habe ich nichts zu tun. Ich bin unvoreingenommen, rein theoretisch. Ich sehe mir den Fall Mantel nochmal an, versuche rauszubekommen, was falschgelaufen ist. Und je eher ich damit fertig bin und wieder nach Hause kann, desto besser, zumindest was mich anbelangt. Ich bin an die Berge gewöhnt. Hier kann man sich ja nirgends verstecken. Man sieht bis zur Wäscheleine von irgend so einem Schwachkopf in der nächsten Grafschaft. Da gruselt’s mich.»
    «Und was wollen Sie von mir?»
    «Ihre Erinnerungen», sagte Vera wie aus der Pistole geschossen.
    «Ich weiß nicht, wie sehr man sich nach all der Zeit darauf verlassen kann.»
    «Das lassen Sie mal meine Sorge sein. Das ist meine Stärke.

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