Opferschuld
während die Alteingesessenen vom Freibier immer ungehobelter wurden, spürte sie seine Blicke. Sie war geschmeichelt, aber nicht überrascht. Sie kannte die Wirkung, die sie auf einsame Männer ausübte.
Auf jeden anderen im Pub war er irgendwann zugegangen, um sich vorzustellen und ein Gespräch anzufangen. Er hatte eine zurückhaltende Art, doch was sie aufschnappte, wenn er sprach, klang angenehm unverblümt und direkt, wie bei einem Kind. Als Partyplauderer war er nicht sonderlich gut. Mit James sprach er an dem Abend auch, sie sah die beiden zusammen lachen. Aber er machte keine Anstalten, auf sie zuzugehen. Es war, als spürte er, dass es eine Gefahr bedeuten würde, wenn sie sich körperlich zu nahe kämen. Wenigstens dachte sie das damals. Jetzt fragte sie sich, ob sie sich etwas vorgemacht hatte. Er und James hatten sich angefreundet, auf eine beiläufige, typisch männliche Art. Freitagabends trafen sie sich oft auf ein Pint, und beide gehörten dem Cricketteam des Dorfs an. Sie hatte keine Ahnung, worüber sie so sprachen – über die Arbeit, vermutlich, Sport, was sonst noch los war.
Jetzt fühlte sie sich unbeholfen, bekam kein Wort heraus. Oft hatte sie davon geträumt, hierherzukommen und ihm ihre Gefühle zu offenbaren, doch heute würde sie ihm etwas ganz anderes ins Gesicht sagen.
«Emma.» Jetzt stand er doch auf und trat um den Schreibtisch herum. Besorgt sah er sie an. «Ist was passiert?»
Sie überhörte die Frage. «Sie haben mir nie gesagt, dass Sie bei der Polizei waren.»
«Das ist lange her. Ich denke nicht gern daran zurück.»
«Sie haben an dem Fall Mantel gearbeitet. Ich habe Sie gerade im Fernsehen gesehen.»
Er sah aus, als würde er nach einer Erklärung suchen, aber sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. «Sie haben mich doch erkannt, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Waren Sie an dem Tag, als ich Abigail gefunden habe, in Springhead House? Ich erinnere mich nicht.»
«Ich habe mit Ihrem Vater gesprochen.»
«Und Sie haben mich gesehen?»
«In der Küche, ganz kurz. Später hat James mir dann bestätigt, dass Sie es sind.»
«Weiß er, dass Sie mal Polizist waren?»
«Das ist nichts, was ich verheimlichen müsste. Neulich im Gespräch kam es kurz auf.»
Wieso?, fragte sie sich. Benutzte James diesen Vorfall aus ihrer Vergangenheit, um ihr Verhalten zu entschuldigen ?
Wir würden dich ja gern mal zum Essen einladen, aber Em ist immer so verschüchtert in Gesellschaft. Sie hat die Leiche ihrer besten Freundin gefunden, ermordet …
Als ob das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun hätte.
«Dachten Sie denn nicht, es könnte mich vielleicht interessieren, dass Sie an dem Fall gearbeitet haben?»
«Ich dachte nicht, dass Sie daran erinnert werden wollen.»
«Wie sollte ich das denn vergessen?», sagte sie. «Erst recht jetzt, mit allem, was passiert.»
«Haben die Zeitungsleute Sie belästigt?»
«Nein.»
«Die werden Sie noch aufspüren. Ich weiß, dass Sie den Namen Ihres Mannes angenommen haben, aber vielleicht sollten Sie die Telefonnummer ändern lassen.»
«Wir stehen nicht im Telefonbuch.»
«Das wird die nicht aufhalten.»
Der Wortwechsel kam ihr unnatürlich laut und schnell vor. Die Worte schienen von den Wänden abzuprallen. Einen Augenblick lang sah sie ihn schweigend an.
«Passen Sie auf», sagte er, «ich mache Ihnen jetzt erst mal einen Kaffee.» Er wischte mit seinem Ärmel über die Sitzfläche des Stuhls. «Setzen Sie sich doch.»
«Ich will wissen, was hier vor sich geht», rief sie. «Warum redet niemand mit mir? Das ist doch nicht fair. Ich bin doch in die Sache verwickelt.»
Sie hatte sich die Vorwürfe klar zurechtgelegt. Die ganze Nacht über war ihr Zorn immer größer geworden. Aber sie hatte nicht gedacht, dass er sich gegen Dan Greenwood richten würde.
Inspector Fletcher, Caroline, hat sich damals bemüht. Sie hat uns bei Laune gehalten, solange die Polizei am Ermitteln war, solange ich noch nützlich hätte sein können. Sie ist jeden Tag vorbeigekommen, um mich zu fragen, woran ich mich erinnern kann. Und jetzt erfahre ich die neuesten Entwicklungen aus dem Fernsehen!
Auch wenn das nicht ganz stimmte. Dan hatte sie durch James ja wissen lassen, dass Jeanie Selbstmord begangen hatte und der Fall vielleicht wiederaufgenommen würde.
Während sie noch zögerte und überlegte, welchen Ton sie anschlagen sollte, hörte sie hinter sich eine Stimme.
«Mir kommt das gar nicht so unfair vor, Herzchen.» Die Stimme
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