Opferschuld
Rauszukriegen, was Wahrheit ist und was Einbildung. Joe Ashworth, mein Sergeant, hält mich für eine Hexe.»
Emma sah abrupt auf, aber Veras Gesicht verriet nicht, ob sie sich über sich selbst lustig machte oder über ihr Publikum. Denn als solches saßen Dan und Emma doch da. Vera zog eine Show für sie ab, die reinste Alleinunterhalterin. Sie hörte gar nicht mehr auf.
«Wie wär’s, wenn wir mit ein paar Fragen anfangen? Mit Punkten, die mir keine Ruhe lassen und die mir noch niemand beantworten konnte. Nicht mal der gute Danny hier. Zum Beispiel, wieso Keith Mantel Jeanie aufgefordert hat auszuziehen?»
«Weil Abigail ihn darum gebeten hat.» Wenn sie dasnicht versteht, dachte Emma, kann sie sich auch gleich wieder in ihre Berge verziehen.
«Aber es muss ihm doch schon vorher klar gewesen sein, dass es nicht einfach werden würde. Ich meine, Abigail und er haben seit dem Tod ihrer Mutter allein in dem Haus gewohnt. Jeder sagt, dass er sie wie eine Prinzessin behandelt und völlig verzogen hat. Wenn sich die beiden so nahestanden, dann hätte er nie seine Geliebte ins Haus gebracht, ohne mit Abigail darüber zu sprechen. ‹Was würdest du davon halten, wenn Jeanie bei uns einzieht?› Man sagt zwar, dass Männer nicht unbedingt die feinfühligsten Geschöpfe auf Erden sind, aber das hätte er doch noch hingekriegt. Und wenn sie die Vorstellung furchtbar gefunden hätte, dann hätte Abigail das doch gesagt. Sie scheint mir nicht gerade schüchtern gewesen zu sein. ‹Vergiss es, Dad. Das geht nicht gut.› So was in der Art. Und er hätte auf sie gehört und sich Jeanie gegenüber entschuldigt, und sei es nur, um sich das Theater zu ersparen. ‹Tut mir leid, mein Schatz, aber Abigail braucht noch etwas Zeit.›»
Die Kommissarin hatte wirklich etwas von einer Hexe, dachte Emma, denn selbst wenn dies nicht der exakte Wortlaut war, so traf es doch ganz genau die Art, wie sie sprachen. Aber Vera legte schon wieder los. «Und das verstehe ich nicht. Ich verstehe nicht, wie er sich in diesen Schlamassel hineingeritten hat.»
«Ich glaube nicht, dass er groß die Wahl hatte.»
«Was meinen Sie damit?»
Emma zögerte. «Das hat Abigail mir jedenfalls erzählt. Ich weiß nicht, ob sie die Wahrheit gesagt hat.» Emma wusste schließlich besser als sonst irgendjemand, dass Abigail eine großartige Schwindlerin gewesen war.
Vera nickte aufmunternd. «Wie gesagt, das werde ich schon zu beurteilen wissen.»
«Abigail zufolge wollte Keith Jeanie anfangs gar nicht wirklich dahaben. Sie hatte Krach mit ihren Eltern und ist einfach von zu Hause weggegangen. Mit einem Rucksack voller Kleider und ihrer Geige stand sie vor der Kapelle. Er konnte sie nicht wegschicken.»
«Zu viel Warmherzigkeit ist also auch nicht gut», sagte Vera, und Emma spürte, dass sie sich bereits eine Meinung über den Mann gebildet hatte und nicht viel von ihm hielt.
«Abigail hat es erst erfahren, als sie Jeanie in der Küche beim Abendessenmachen gesehen hat.»
Diese Geschichte hatte Abigail am anderen Tag erzählt. Es war noch so ein heißer Nachmittag, schwül und windstill. Es musste in jenem Sommer geregnet haben, Dunst lag über dem Meer, aber daran konnte Emma sich nicht erinnern. An jenem Tag hatte Abigail sich bereit erklärt, mit ihr an den Strand zu gehen, und sie liefen den Pfad zwischen den sandigen Feldern hinunter. Die Ernte war schon beinahe eingeholt, in der Ferne wurde das Stroh eingefahren, aber an einer Stelle war die Gerste noch nicht geschnitten. Als sie dort entlanggingen, strichen ihnen die fedrigen Grannen über die Beine. Auf einer Leitung saßen Schwalben, säuberlich aufgereiht, ganze Wolken aus Insekten schwebten in der Luft, und Abigail, die forsch auf dem schmalen Pfad voranschritt, sprach sehr laut. Den ganzen Weg über hörte sie nicht auf zu reden. Sie klang fassungslos und wiederholte alles, weil sie diese Unverschämtheit einfach nicht glauben konnte.
«Ich meine, da stand sie einfach, hat die Küchenschränke durchwühlt und dann den Kühlschrank. ‹Ich dachte, ich mache uns ein Risotto. Ist dir das recht, Abby?› Ich meine, niemand, aber wirklich niemand, nennt mich Abby. Nicht mal du nennst mich so, und du bist meine beste Freundin.Aber da hatte ich’s immer noch nicht kapiert. Ich habe gedacht, das wäre eine einmalige Sache, für eine Nacht. Dann bin ich hoch in Dads Zimmer, und da waren ihre ganzen Sachen. Sie war grad mal eine Stunde da, und ihre Sachen hingen schon in seinem Schrank, und ihre
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