Opferschuld
ausgeliefert, als hätte sie sie ins Haus bitten müssen.
Als sie am Crescent ankam, stand Dans Tür offen, und sie ging, ohne anzuklopfen, hinein, den Autositz mit Matthew stellte sie in den schmalen Flur. Sie war noch nie bei Dan zu Hause gewesen, aber James kam dann und wann hierher. Während der Cricketsaison war das eine seiner Entschuldigungen, wenn es spät wurde:
Ich bin nach dem Spiel noch auf ein Bier mit zu Dan gegangen.
Während sie sich vor der Küche herumdrückte, kam ihr der Gedanke, dass James wahrscheinlich die ganze Zeit über gewusst hatte, welche Rolle Dan Greenwood in dem Mordfall Abigail Mantel spielte. Die Frage nach Dans früherer Arbeit war bei den freitäglichen Besäufnissen bestimmt einmal aufgekommen. Wie Dan schon gesagt hatte, es war schließlich nichts, wofür er sich schämen musste.
Im Erdgeschoss bestand das Haus aus einem winzigen Wohnzimmer und einer ebenfalls winzigen Küche mit einerTür, die zum Garten hinausging. Die Küchenwände waren dunkelgrün gestrichen, und auf dem Fensterbrett stand einer von Dans Krügen mit Chrysanthemen darin, doch alles andere konnte gut und gerne von den Vorbesitzern stammen. Man wäre nicht darauf gekommen, dass hier ein Künstler wohnte. Nirgends war etwas von der kreativen Unordnung zu sehen, die sie erwartet hatte. Sie saßen zu dritt um den Küchentisch, und Vera schien den Großteil des Raumes einzunehmen. Emma fühlte sich an Zugreisen erinnert, an Fremde, die zusammengezwängt an einem Tischchen saßen und sich bemühten, jede Berührung der Knie und Füße zu vermeiden. Dan hatte seine Arbeitsstiefel ausgezogen und trug jetzt Sandalen, wie Kletterer sie tragen. Seine Füße waren braun gebrannt. Er hatte Filterkaffee gemacht und Schokoladenkekse auf einen Teller gelegt. Emma konnte nicht einschätzen, was er von dieser Invasion hielt. Hatte man ihm Vera Stanhope aufs Auge gedrückt, oder waren sie beide Verbündete, alte Freunde? Er verhielt sich liebenswürdig ihr gegenüber und war doch auf der Hut. Als wäre sie ein großer Hund, der sich im Allgemeinen zwar gut benahm, nur manchmal plötzlich über Fremde herfiel. Offenbar kostete es Dan große Mühe, still zu sitzen.
Vera lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, über ihren Augen lagen die ledrigen, harten Lider.
«Nun, Herzchen, was möchten Sie denn fragen? Schießen Sie mal los. Dan und ich werden Ihnen alles sagen, was wir wissen.»
«Sind Sie sicher, dass Jeanie unschuldig war?»
«Ganz sicher.»
«Was macht Sie so sicher?»
Vera beugte sich langsam vor und nahm einen Keks. «Sie hat immer behauptet, dass sie an dem Tag nach Londongefahren ist. Ganz spontan, sagte sie. Sie wollte hier weg, in der Großstadt untertauchen. Keith hatte sie gebeten, aus der alten Kapelle auszuziehen, und sie war am Boden zerstört. Sie hielt sich für verliebt.» Vera mampfte den Keks in sich hinein, wischte sich die Krümel vom Kinn und redete weiter, obwohl sie noch am Kauen war. «In Hull ist sie in den Zug gestiegen. Sagte sie jedenfalls. Ist in South Bank rumgelaufen und hat sich mittags die Musik dort angehört, war in der Tate Gallery und hat dann den Zug nach Hause genommen. Aber niemand hat sie gesehen. Dannys Kollegen hat sie gesagt, sie hätte das Auto auf dem Langzeitparkplatz stehenlassen, aber das Parkticket ist nie aufgetaucht. Sie haben dem Kerl, der ihr die Zugkarte verkauft hat, ein Foto von ihr gezeigt, aber er hat sie nicht erkannt. Von den Leuten, die mit ihr Zug gefahren sind, hat sich auch niemand gemeldet. Und in London war’s das Gleiche. Man kann sich einfach nicht vorstellen, dass jemand derart unsichtbar ist. Es war Sonntag, da sind die Züge nicht voll, aber trotzdem ist sie niemandem aufgefallen. Noch komischer ist, dass sie den Ausflug ihren Eltern gegenüber nicht erwähnt hat. Weder als sie losgefahren ist, noch als sie wiederkam. Ihr Auto stand von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends nicht an seinem Platz vor dem Haus ihrer Eltern auf der Landspitze. Das war alles, was sie sicher wussten.»
Sie warf einen begehrlichen Blick auf den letzten Keks, rührte ihn aber nicht an. «Vielleicht hätte die Polizei mehr tun können. Landesweit ermitteln. Einen Zeugenaufruf starten. Aber sie hielten sie ja für schuldig, einen Mord begangen zu haben. Und sie waren nicht dafür zuständig, Beweise für die Verteidigung zu finden.» Ein breites Delphinlächeln glitt über ihr Gesicht. «Stimmt doch, Danny, oder? Ihr habt alle gedacht, ihr hättet eure Mörderin. Wiesagt
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