Opferschuld
immer, der Kleine sei in seinen Gewohnheiten so zuverlässig wie die Gezeiten, und er hatte recht. Ihr Leben wurde im Sechs-Stunden-Takt unterbrochen. Langsam gewöhnte sie sich daran.
Matthew wurde ruhiger, und sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. In diesen friedlichen Wartezeiten beschwor sie für gewöhnlich Träume von Dan Greenwood herauf. Ihre Phantasien waren nicht besonders ausgefallen. Sie sah sich nachts in die Töpferei gehen, wo er sie küssen und berühren würde. Mit ihm zu schlafen, stellte sie sich nur selten vor. Ihre Phantasien hätten zu einem unreifen Teenager gepasst, sie waren tröstlich und harmlos. Phantasien, die sie vielleicht auch mit fünfzehn gehabt hätte, bevor Abigail ums Leben kam. Sie ermahnte sich, die Träume zu vergessen. Sie war erwachsen, da war doch so etwas nicht mehr von Bedeutung. Aber sie konnte sie nur schwer aus ihrem Kopf verbannen.
Als sie ihren Pullover wieder herunterschob, kamen zwei halbwüchsige Jungen aus einem der Häuser gestürzt und fingen an, einen Ball gegen die Kaimauer zu kicken. Sie stieg mit Matthew im Arm aus dem Wagen und sah den Fluss hinab. Der Geruch nach Schlick und Seegras mischte sich mit dem Geruch nach gebratenem Speck und Pommes frites aus dem Imbiss.
Den Imbiss gab es noch nicht lange. Davor hatte hier ein Eisverkäufer gestanden, aber nur bei schönem Wetter und an Wochenenden. Und während Emma an den Eiswagen dachte, fiel ihr plötzlich ein, dass sie Abigail Mantel dort zum ersten Mal getroffen hatte. Über zehn Jahre hatte sie nicht mehr an diese Begegnung gedacht. Selbst als sie Caroline Fletcher die Geschichte ihrer Freundschaft erzählte, war ihr das irgendwie durchgerutscht oder zu trivial erschienen. Jetzt kamen die Bilder wieder, blitzartig und so ausgefranst wie das Sonnenlicht auf dem Bürgersteig. So fühlt es sich also an, alt zu sein, dachte sie. So erinnern sich alte Leute an ihre Kindheit.
Es war Juni, sie lebten erst seit einer Woche in Springhead House. Robert war immer noch wie berauscht von der neuen Aufgabe, voller Zuversicht, was das Haus betraf, seine Arbeit, überhaupt das Leben auf dem Lande. «Ein Neuanfang», sagte er wieder und wieder. «Wir haben wirklich Glück gehabt.» Doch Emma konnte das nicht so empfinden. Sie fühlte sich entwurzelt. Buchstäblich. Als hätte jemand sie aus festem Boden herausgerissen und irgendwo hingeworfen, damit sie dort verrotte. Sie versuchte, mit Christopher darüber zu reden, aber der zuckte nur die Schultern. «Es ist nun mal so», sagte er. «Die werden nicht mehr zurückziehen. Mach das Beste draus.» Damals fand sie, dass das genau das war, was ein Erwachsener sagen würde, und fühlte sich im Stich gelassen.
Robert dagegen sprang aufgedreht überall herum und raubte ihnen den letzten Nerv. Und nun war Samstag, und obwohl ihre Habseligkeiten immer noch in den Kisten lagen und Mary erschöpft aussah, bestand er darauf, dass sie einen Ausflug machten, um die neue Umgebung zu erkunden. Vielleicht riss sein Enthusiasmus sie am Ende mit, vielleicht hatten sie einfach nicht mehr die Kraft, einen Streit vom Zaun zu brechen, jedenfalls einigten sie sich sehr schnell und ohne Zankerei. Ein Fahrradausflug, sagte er. Das liege doch nahe. Genau das Richtige, weil die Gegend so flach sei. Und er kletterte über die Umzugskisten in der Garage, um ihre Fahrräder hervorzuzerren.
Sie fuhren hintereinander, mit Robert an der Spitze. Er hatte weite Freizeitshorts an, die ihm um die Beine flatterten, und ein T-Shirt mit dem christlichen Fischsymbol vorne drauf. Emma genoss das Gefühl beim Radfahren, die Anstrengung beim Treten, den Geruch nach Salz und Seegras und Schlick. Aber die ganze Zeit über dachte sie: Bitte mach, dass mich keiner aus meiner neuen Schulesieht. Nicht mit meinen Eltern und meinem bescheuerten Bruder, nicht jetzt, wo wir aussehen, als wären wir einem Enid-Blyton-Roman entsprungen.
Sie fuhren auf die Landspitze, die die ganze Zeit über Roberts Ziel gewesen sein musste, auch wenn er nichts gesagt hatte. Und auf einmal war es, als radelten sie übers Meer, mit dem Wasser zu beiden Seiten und Möwen, die neben ihnen herflogen. Bei dem Eisverkäufer hielten sie an. Sie ließen sich ins Gras fallen, die Räder neben sich, und Robert ging Eis kaufen. Christopher rollte sich auf den Bauch und fing einen Marienkäfer in seinen gewölbten Händen. Er fing Insekten immer auf diese Art. Durch ein Loch zwischen Daumen und Zeigefinger sah er sich den Käfer an, als
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