Opferschuld
Höschen lagen in seiner Schublade. Aber ich weiß, dass er sich das nicht gefallen lässt. Ende der Woche ist sie wieder weg. Dad braucht seine Privatsphäre. Selbst ich darf nicht in sein Zimmer, ohne vorher zu fragen.»
«Aber warum hat er es sich dann doch gefallen lassen?», unterbrach Vera sie. «Das ist die eigentliche Frage. Wichtiger als die Frage, wieso er sie am Ende gebeten hat auszuziehen. Jeanie war drei Monate da. Warum hat er sie nicht früher rausgeschmissen?»
«Er hat sie geliebt», sagte Emma. «Oder nicht?»
«O nein», gab Vera im Brustton der Überzeugung zurück. «Liebe hat dabei keine Rolle gespielt. Jedenfalls nicht, was ihn betrifft.»
«Abigail hat sich jedenfalls ziemlich gewundert, dass sie nicht sofort ihren Willen bekam.» Emma lächelte, als sie daran dachte, wie aufgeschmissen ihre Freundin war, weil ihre verschiedenen Taktiken offenbar alle nichts nützten. Irgendwie war es nur gerecht gewesen, dass Abigail auch einmal eine Enttäuschung herunterschlucken musste. Emma hatte die Streitereien mit der gleichen Mischung aus Mitleid und Freude verfolgt, die sie empfunden hätte, wenn Abigail einen dicken Pickel auf der Nasenspitze bekommen hätte.
«Warum hat Keith dann nachgegeben?», wollte Vera wissen. «Nach drei Monaten?»
«Vielleicht hat sie ihn mit ihrer Hartnäckigkeit einfach zermürbt?»
«Könnte sein.»
«Warum fragen Sie nicht die Kommissarin, die damals mit dem Fall befasst war? Sie hat doch bestimmt mit den Leuten gesprochen.»
«Caroline Fletcher ist nicht mehr bei der Polizei», sagte Vera fest. «So wie unser Danny.» Sie schwieg kurz. «Schon seltsam, nicht wahr, dass die beiden, die am intensivsten mit der Untersuchung befasst waren, den Dienst quittiert haben, kaum dass Jeanie Long vor Gericht stand.»
Sie schenkte Dan ein breites Lächeln, mit dem sie ihn bat, ihr das nicht übelzunehmen.
Kapitel dreizehn
Draußen schien immer noch die Sonne. Ein böiger Westwind versprach weiteren Regen. Wolkenförmige Schatten wurden über die Felder getrieben, auf denen sich schon der erste grüne Winterweizen zeigte. Noch immer hielt Vera in dem kleinen Haus ihre Monologe, und noch immer hörte Dan zu. Emma hatte sich entschuldigt und die beiden allein weitermachen lassen. Sie fuhr bis zum Ende des Crescent und, anstatt ins Dorf zurückzufahren, weiter in Richtung Küste. Wendy, die Steuerfrau des Lotsenboots, die Emma wohl am ehesten als eine Freundin bezeichnen konnte, freute sich immer, wenn sie mit Matthew hereinschneite. Emma suchte nach einer Ausrede, warum sie nicht nach Hause zurückfuhr, zum Fernseher und den Lokalnachrichten. Sie würde es nicht ertragen, Dan noch einmal auf dem Bildschirm zu sehen. Er war dünner gewesen, damals, hatte die Haare kürzer getragen. Doch wie er so finster in die Kamera blickte, glaubte man ohne weiteres, dass seine Launenoft die Oberhand über ihn gewannen. Emma konnte sich nicht vorstellen, dass er sich fremden Befehlen beugte, vielleicht hatte er ja deshalb den Polizeidienst quittiert.
Jedes Jahr im Spätsommer wurde vorausgesagt, dass die Landspitze von der Flut der Tagundnachtgleiche weggespült würde. Einen heftigen Sturm, sagten die Leute, mehr würde es nicht brauchen. Auf jeden Fall war die Landspitze schmaler als früher, eine Landzunge von der Form eines ausgelaugten Phallus, der auf der nördlichen Seite schlaff in der Flussmündung lag. Die alte Straße verschwand stellenweise im Meer, und man hatte eine neue gebaut, durch den Sand, die Stranddisteln und die Sanddornsträucher. Ganz vorn, wo die Anlegestelle war und die Häuser standen, die zur Rettungswache gehörten, wölbte sich die Landspitze ein wenig zurück. Die modernen neuen Häuser passten nicht hierher, sie sahen alle gleich aus, wie aus einem Bausatz. Die könnte man ohne Bedauern zurücklassen, dachte Emma, wenn der große Sturm dann irgendwann käme. Nur die Cottages, in denen die Steuermänner wohnten, die hielten etwas aus.
Sie parkte neben dem Imbiss, wo die Vogelbeobachter und Fischer Kaffee und allerlei Frittiertes kaufen konnten. Matthew war wach und jammerte los, kaum dass das Auto hielt. Sie stillte ihn gleich dort, auf dem Beifahrersitz, mit Aussicht auf das Wasser, ihren Mantel schützend um sie beide gelegt, auch wenn weit und breit niemand zu sehen war. Wendy, die behauptete, niemals in ihrem Leben Kinder gewollt zu haben, sah ihr sonst mit Hingabe beim Stillen zu, aber Emma wollte kein Publikum. Heute jedenfalls nicht. James sagte
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