Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
Vom Netzwerk:
Schlaf. Zigaretten und Koffein hielten sie in Gang, sagte sie immer,und auch heute hing ihr eine Zigarette im Mundwinkel, denn sie brauchte beide Hände, um den Stecker eines Bügeleisens zu reparieren. Trotz der ganzen Unordnung war sie unermüdlich beschäftigt. Als Emma mit dem Baby hereinkam, drückte Wendy die Zigarette aus und machte ein Fenster auf, aber der Rauchgeruch blieb im Zimmer hängen und überdeckte irgendetwas Unangenehmeres, das Emma nicht genau ausmachen konnte. Vergammeltes Gemüse vielleicht, oder saure Milch. Es schien aus der Speisekammer zu kommen. Wendy bemerkte augenscheinlich nichts. Sie räumte die Werkzeugtasche von einem Küchenstuhl, sodass Emma sich setzen konnte.
    «Hast du das von Michaels Tochter schon gehört?» Es war das Erste, was sie sagte, während sie löslichen Kaffee aufgoss. Dann drehte sie sich zu Emma um, um zu sehen, wie sie reagieren würde, und den Schrecken mit ihr zu teilen. Im ganzen Dorf, dachte Emma, reden die Leute so. Genießen die Aufregung. Spüren, dass ihr Wohnort ihnen unerwartet eine Rolle in einem Drama zugespielt hat.
    «Ja», antwortete Emma. «Ich habe es im Fernsehen gesehen.» Dann sagte sie, wobei sie die Neuigkeit wie eine Gabe darbrachte, so wie man bei einer Abendeinladung Pralinen und Wein mitbringt: «Michael war gestern in der Kirche.»
    «Ehrlich? Ich kann ja nicht gerade behaupten, dass ich den alten Mistkerl mochte, aber er muss einem wirklich leidtun   …»
    «Er ist nicht bis zum Schluss geblieben», sagte Emma. «Ich glaube, er wollte sich die Leute danach nicht antun.» Sie brachte es nicht über sich zu erzählen, dass er ihren Vater mit Wein bespuckt hatte.
    «Dir ist doch klar, was das bedeutet   …» Wendy beugte sich nach vorn. Sie hatte ihre Uniform gegen Jeans und einen riesigen, selbstgestrickten Pullover getauscht. IhreAugen glänzten vor Erschöpfung und noch von etwas anderem, das Emma nachdenklich werden ließ. Sie fragte sich, was wirklich in Wendy vorging. Was war das? Verzweiflung? Euphorie? Wendy war nicht immer allein gewesen. Sie hatte Freunde gehabt, Liebhaber. Hin und wieder war mal einer eingezogen, aber sie waren nie lange geblieben. Wendy hatte so getan, als ob ihr das nichts ausmachte, und Emma hatte sich davon täuschen lassen.
    «Was bedeutet es denn?», fragte sie vorsichtig.
    «Dass der Mörder noch frei herumläuft natürlich», sagte Wendy. «Und ich glaube nicht, dass es jemand Fremdes war. Damals, vor zehn Jahren, muss die Polizei herumgefragt haben, ob jemand einen Fremden gesehen hat. Der wäre doch aufgefallen, meinst du nicht? An einem Sonntagnachmittag im November kommen nicht so viele Ausflügler. Und wenn man auf kleine Mädchen steht, würde man ja wohl kaum erwarten, am Rand von einem Bohnenfeld eins zu treffen. Abgesehen davon ist sie ja gar nicht vergewaltigt worden, oder?»
    Sie brach plötzlich ab, schlug sich die Hand vor den Mund, eine viel zu theatralische Geste, als dass sie ernst gemeint sein konnte.
    «Das habe ich ganz vergessen. Du warst ja mit ihr befreundet. Es tut mir leid, Liebes.»
    «Nein», sagte Emma. «Sie ist nicht vergewaltigt worden.» Über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg sah sie Wendy an. «Hast du damals schon hier in der Gegend gewohnt?» Wendy musste Mitte dreißig sein. Sie war damals ungefähr in dem Alter wie Emma heute.
    «In Elvet. In einem der Häuser von der Gemeinde. Verheiratet mit einem Dreckskerl. Kurz danach habe ich Vernunft angenommen und mit der Arbeit auf den Fähren angefangen.»
    «Hast du Jeanie Long gekannt?»
    «Ich bin mit ihr zur Schule gegangen. Wir hatten aber nicht viel miteinander zu tun. Sie war mir nicht sonderlich sympathisch.» Wendys Augen funkelten. «Ich sage ja nur, du sollst auf dich aufpassen. Geh kein Risiko ein. Es überrascht mich, dass James dich allein mit dem Kleinen hat weggehen lassen.»
    «Er schläft. Er weiß es gar nicht.» Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war beinahe vier, draußen wurde es schon dämmrig. «Wir sollten vielleicht zurückfahren.»
    «Aye», sagte Wendy. «Ihr macht euch besser auf die Socken, bevor es richtig dunkel wird. Und pass auf dich auf.»
    Doch sie selbst schloss hinter ihrem Besuch nicht ab. Sie zündete sich eine Zigarette an und wandte sich wieder dem Bügeleisen zu, als spürte sie, dass sie nicht in Gefahr schwebte.

Kapitel vierzehn
    Als sie von der Landspitze zurückkamen, war es dunkel, und vor der Töpferei hing das Vorhängeschloss. Der Platz lag verlassen da, es hätte auch

Weitere Kostenlose Bücher