Opferschuld
Motorenlärm zu hören war. Er setzte sich auf, und der Marienkäfer flog davon.
Robert, der mit dem Eis zurückkam, warf einen finsteren Blick auf den Verursacher des Lärms. Sein perfekter Familiennachmittag war gestört worden. Er murmelte etwas von Hooligans. Das Auto war schwarz und glänzend, ein Cabriolet mit heruntergelassenem Dach, und es hielt direkt neben ihnen. Auch als der Motor schon aus war, dröhnte laute Musik, die Emma nicht kannte, aus dem Wagen. Auf dem Beifahrersitz saß Abigail Mantel, das rote Haar dekorativ zerzaust. Erst dachte Emma, das Auto müsse ihrem Freund gehören. Abigail sah viel älter aus, als sie war. Schon nach einem flüchtigen Blick wusste man, dass Abigail zu den Mädchen gehörte, auf die Jungs mit PS-star ken Autos standen.
Abigail schlüpfte aus dem Wagen. Sie trug einen Jeansrock, der seitlich geschlitzt war, und ein ärmelloses rotes T-Shirt . Sie dachten, Abigail wolle Eis kaufen, und strengten sich an, sie nicht anzustarren, was Christopher eher schlecht als recht gelang. Emma staunte. Sie hatte nochnie gesehen, dass er einem Mädchen Beachtung schenkte. Doch zu ihrer aller Überraschung kam Abigail auf sie zu. Das Eis tropfte aus den durchweichten Waffeln. Sie ließ sich neben Emma im Gras nieder. Christophers Mund stand offen, aber er saß zu weit entfernt, als dass Emma ihm einen Tritt hätte verpassen können.
«Hi», sagte Abigail. Sie sprach ein wenig schleppend, klang aber freundlich. «Bist du nicht die Neue? Ich habe dich im Bus gesehen. Ich dachte gleich, dass du es bist. Deshalb habe ich Dad gebeten anzuhalten.»
Emma hasste den Schulbus. Er war überfüllt und laut, und niemand nahm Rücksicht. Sie sorgte immer dafür, dass sie einen Platz in der Ecke bekam, und schaute aus dem Fenster. Abigail hatte sie jedenfalls noch nie bemerkt.
«Ja», sagte sie. «Klar. Hi.»
War Keith auch aus dem Auto gestiegen, um sich zu ihnen zu setzen? Obwohl sie angestrengt nachdachte, konnte Emma kein Bild aufrufen, auf dem er neben ihnen im Gras saß. Genauso wenig konnte sie sich daran erinnern, dass er etwas gesagt hätte. Robert aber hatte sich auf jeden Fall mit Abigail unterhalten. Sie redeten angeregt miteinander, und er war beeindruckt von ihrer Höflichkeit. Er fragte sie, wie sie heiße, und stellte dann die Familie vor. Sie sprachen darüber, wo sie wohnte und welche Fächer sie an der Schule hatte. Als sie schließlich zum Auto zurückging und noch einmal winkte, sagte er: «Das scheint ja ein nettes Mädchen zu sein, Em. Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass du hier leicht Freunde finden wirst.»
Mary hatte kein einziges Wort gesagt. Sie wirkte wie erstarrt. Als würde sie den Atem anhalten. Vielleicht war sie nicht so überzeugt davon, dass die Einheimischen sie ohne weiteres akzeptieren würden.
Emma fragte sich, ob Robert die Begegnung mit Abigail auf der Landspitze ebenfalls entfallen war. Er hatte seinem Vorgesetzten doch gesagt, dass es in Ordnung sei, wenn er Jeanie Long betreue, da er Abigail Mantel nicht gekannt habe, ihr nie begegnet sei. Ein so flüchtiges Gespräch, dachte sie, zählte wohl kaum als richtige Begegnung.
Wendy, die stets tadellos gekleidet zur Arbeit erschien, die in allem, was das Lotsenboot betraf, höchste Sorgfalt walten ließ, war zu Hause überaus unordentlich. Emma mochte das Durcheinander in dem weißgetünchten Cottage. Vielleicht gründete ihre Zuneigung zu der Steuerfrau ja genau darauf, dass sie kaum etwas gemein hatten. In diesem Haus mit den überquellenden Mülleimern und den Bergen schmutziger Wäsche fühlte sie sich wie befreit und zugleich überlegen. Und sie beneidete Wendy – wie selbstsicher musste sie doch sein! Die Leute in eine Küche zu lassen, in der alles voller schmutzigem Geschirr stand, sich die Take-away-Schachteln vom Vorabend auf dem Tisch türmten und frischgewaschene Unterhosen, die trotzdem nicht ganz sauber waren, über der Heizung hingen. Ungeachtet ihres Neids fühlte Emma sich als der bessere Mensch, weil ihr Haus ordentlicher war. Sie war stolz auf die geputzten Fenster, die ausgekochten Geschirrtücher und die frischgewaschenen Vorhänge.
«Ich weiß wirklich nicht, ob Wendy mit einem Baby zurechtkommen würde», hatte sie einmal zu James gesagt, und schon während sie sprach, merkte sie, wie selbstgefällig das klang.
Heute war Wendys Zwölf-Stunden-Schicht mittags zu Ende gegangen, aber Emma wusste, dass sie noch auf den Beinen sein würde. Offenbar brauchte sie keinen
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