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Opferschuld

Opferschuld

Titel: Opferschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Cleeves
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würde sie ohnehin nicht weggehen. Sie würde, wenn nötig, die ganze Nacht dort draußen stehen, sich einen Durchsuchungsbefehl besorgen und die Tür einschlagen.
    Emma rechnete so fest mit der Kommissarin, dass sie sich fast reingelegt vorkam. Sie hatte sich schon die vorwurfsvollen Worte zurechtgelegt:
Ist Ihnen eigentlich klar, dass mein Baby schläft? Ich habe Ihnen bereits alles erzählt, was ich weiß.
Aber die Silhouette vor der Tür war größer als Vera Stanhope, besser gebaut, fast sportlich. Wer auch immer es war, er hatte sich abgewandt und sah auf den Platz hinaus. Das lange Haar war verfilzt. Er trug eine dünne Regenjacke und hatte einen kleinen Rucksack neben sich stehen. Es war der letzte Mensch, den sie erwartet hätte.
    «Chris. Was machst du denn hier?»
    Er drehte sich um, um sie anzusehen. Da war noch immer dieser grüblerische Ausdruck, den er sich als Student zugelegt hatte. Sie hatte das für Getue gehalten, eine Masche, um Frauen rumzukriegen, doch es war ihm offenbar in Fleisch und Blut übergegangen. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen, die das Licht über der Tür noch stärker hervorhob, so wie es ihn insgesamt kantiger aussehen ließ, als sie ihn in Erinnerung hatte.
    «Ich bin hier, um meine Schwester zu besuchen», sagteer. «Was sonst.» Er beugte sich unvermittelt hinunter und küsste sie flüchtig auf die Wange. Seine Lippen waren eiskalt. «Ich hoffe bloß, ihr habt ein paar Flaschen Bier vorrätig. Sonst müssen wir James losschicken, welches zu holen. Ich war den ganzen Tag unterwegs und komme um vor Durst.»
    «Wie bist du hierhergekommen?»
    «Mit dem letzten Bus aus Hull. Hat Ewigkeiten gedauert.»
    «Du hättest anrufen sollen. Ich hätte dich doch abgeholt.»
    «Ich halte nichts von Autos.» Er lachte. Sie kam nicht dahinter, ob das ein Witz auf seine Kosten war, weil er solche unbequemen Grundsätze hatte, oder ob er sich über sie lustig machte, weil sie ihn ernst nahm. Sie hatte noch nie richtig mit ihm umgehen können. Obwohl sie die Ältere war, hatte seine Intelligenz sie immer eingeschüchtert. Und seit Abigails Tod war die Kluft zwischen ihnen noch größer geworden. Keiner von ihnen hatte sich je richtig auf den anderen zubewegt.
    Ihr fiel auf, dass sie immer noch in der Tür stand und ihm den Weg ins Haus versperrte. Sie trat beiseite.
    «Komm doch rein. James macht gerade Abendessen. Ich bin sicher, dass wir Bier dahaben.»
    Die Küche lag im hinteren Teil des Hauses, und sie führte Chris dorthin. Tagsüber wirkte sie dunkel und ein wenig bedrückend, doch jetzt, wenn man aus der Kälte kam, sah sie warm aus, richtig einladend. James hatte sich wieder darangemacht, die Zwiebeln zu schneiden. Er zerteilte sie in hauchdünne, fast schon durchsichtige Ringe.
    «Haben wir genug für drei? Schau, wer zum Abendessen gekommen ist.» Ihre Stimme klang unnatürlich fröhlich. Sie war sich nicht ganz sicher, wie gut die beiden Männermiteinander auskamen. Sie gingen freundlich miteinander um, aber in einem unbedachten Moment hatte James ihr einmal gesagt, dass er ihren Bruder arrogant finde. Da hatte er schon recht, Chris konnte wirklich den Eindruck vermitteln, als verachte er die ganze Welt, abgesehen vielleicht von ein paar Wissenschaftlern, die den Nobelpreis bekommen hatten.
    James sah vom Schneidbrett hoch. Er musste Chris’ Stimme an der Tür gehört haben und hatte seine Antwort schon parat.
    «Na klar», sagte er. «Schön, dich zu sehen.» Er schwieg eine Sekunde lang. «Wissen Robert und Mary, dass du hier bist? Wir könnten sie ja auch einladen.»
    «Du lieber Himmel, bloß nicht.» Chris war entsetzt. «Ich muss erst mal eine Nacht durchschlafen, bevor ich an so was denken kann.»
    James schob die Zwiebeln vom Brett in eine Pfanne.
    «Im Kühlschrank steht Bier», sagte er. «Du kannst mir auch gleich eins geben.»
    Als Chris ihnen den Rücken zuwandte, verdrehte James die Augen und schnitt ein Gesicht. Was störte ihn denn nun schon wieder? Chris’ Einstellung zu seinen Eltern? Oder war er enttäuscht, dass sie den Abend nun nicht mehr für sich allein hatten? Emma wusste es nicht.
    Sie wollten in dem kleinen, schmalen Zimmer essen, das direkt neben der Küche lag. Emma zündete Kerzen an und deckte den Tisch, während Christopher nach oben ging, um zu duschen. Durch die offene Tür beklagte sich James mit gedämpfter Stimme bei ihr, während er den Salat machte.
    «Also wirklich», sagte er. «Chris hätte uns doch anrufen können. Was, wenn wir keine

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