Opferschuld
Zeit gehabt hätten? Wer außer ihm würde einfach so auftauchen?»
«Er denkt eben nur an sich», sagte sie. «Er hat sich überlegt,dass er uns besuchen will, und das war’s. Wenn er den Entschluss einmal gefasst hat, denkt er an nichts anderes mehr, als wie er am besten herkommt.»
So war Christopher schon immer gewesen, auch als Kind. Stets begeisterte er sich für etwas, das er erforschen wollte, ein Projekt, und das nahm ihn dann voll und ganz ein. Mit den anderen Schulfächern befasste er sich nur noch oberflächlich und am Rande, aber seine Lehrer wussten, dass er mit den Gedanken woanders war. Diese Besessenheit endete dann genauso plötzlich, wie sie angefangen hatte, und er wandte sich etwas anderem zu – Dinosauriern oder der Schwerkraft oder einem unbekannten Komponisten. Mit den Seevögeln beschäftigte er sich schon erstaunlich lange. Aber vielleicht hatten die Papageientaucher ja begonnen, ihn zu langweilen, und er war deswegen hier.
Damals hatte die Familie sich gesagt, dass ein Wissenschaftler nun einmal exzentrisch sein müsse. Doch jetzt überlegte Emma erneut, wann seine Besessenheiten angefangen hatten, mit dem Umzug nach Elvet oder mit dem Mord an Abigail? Und waren sie wirklich so harmlos, wie sie ihnen damals vorkamen, oder deuteten sie auf eine tiefer gehende Verstörung hin? Sie wünschte, sie hätte sich mehr Mühe gegeben, ihn zu verstehen, damals, als sie beide noch zu Hause wohnten. Vielleicht war sein Auftauchen ein gutes Zeichen. Es war noch nicht zu spät, sich näherzukommen.
Anfangs aßen sie schweigend. Der Wind hatte sich gelegt, aber im Hintergrund hörte Emma immer noch ein Raunen. Sie versuchte ein paarmal, ein Gespräch in Gang zu bringen, fragte nach Christophers Arbeit, der Wohnung in Aberdeen, aber sie merkte bald, dass er erschöpft war. Er hatte den linken Ellbogen auf den Tisch gestützt, der Kopf ruhte in der Handfläche, und mit der Gabel in der rechtenHand schob er sich die Nudeln in den Mund. Sie wusste, dass James das missbilligte. Er legte furchtbar viel Wert auf Tischmanieren. Hin und wieder wurden Chris’ Lider schwer, dann ließ ihn irgendetwas ruckartig hochfahren, und er starrte sie einen Augenblick lang an, als wüsste er nicht mehr, wer sie waren. Er hatte Bier getrunken und den Großteil einer Flasche australischen Rotwein. Emma überlegte, ob er wohl ein größeres Problem hatte. Könnte er drogenabhängig geworden sein? Würde sich jemand, der auf Entzug war, so benehmen? Sie hatte keine Ahnung. Vielleicht war ja auch eine Liebesgeschichte zu Ende gegangen, und er war deswegen deprimiert. Dass er deprimiert war, davon war sie mittlerweile überzeugt. Dass Chris’ Auftauchen in Elvet irgendetwas mit Abigail Mantel zu tun haben könnte, kam ihr überhaupt nicht in den Sinn.
Sie waren bei Käse und Obst angelangt. James sagte sehr freundlich: «Hör mal, du bist ganz offensichtlich müde. Geh einfach schlafen, wann immer du willst. Das macht uns nichts aus.»
«Nein!» Christophers Kopf fuhr wieder ruckartig hoch. «Das bringt nichts. Ich kann noch nicht schlafen.»
«Na, ich jedenfalls gehe jetzt zu Bett. Ich muss morgen früh raus.» Er warf Emma einen vielsagenden Blick zu. Vielleicht dachte er, dass sie dort weitermachen könnten, wo sie aufgehört hatten, als Chris sie unterbrach.
«Ich komme gleich nach.» Aber sie achtete darauf, auch nicht die kleinste Spur eines Versprechens in ihre Stimme zu legen. Und sie kannte ihn. Wenn James einmal im Bett lag, schlief er sofort ein.
Sie wartete, bis er nach oben gegangen war, holte noch eine Flasche Wein aus der Küche und goss ihnen beiden ein. Seit sie erfahren hatte, dass sie schwanger war, hatte sie nicht mehr so viel getrunken. Bisher hatte sie nie diegroße Schwester spielen müssen. Als sie noch Kinder waren, war sie diejenige gewesen, um die man sich kümmern musste. Chris war unabhängig gewesen, sich selbst genug.
«Was ist los, Chris?», fragte sie. «Was ist passiert?»
Zum ersten Mal setzte er sich aufrecht hin und sah ihr direkt ins Gesicht.
«Das weißt du nicht?» Brutal, gemein. «Bist du wirklich so begriffsstutzig, dass du nie was gemerkt hast?»
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
«Tut mir leid», sagte er. «Ich bin völlig durcheinander. Ich habe kein Auge zugetan, seit das alles wieder losgegangen ist.»
«Was denn?», fragte sie. «Was ist wieder losgegangen?»
«Das mit Abigail Mantel.»
«Jeanies Selbstmord stand doch erst gestern in der
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