Opferschuld
Fremden nicht stören, der von seinen eigenen Gedanken offenbar so starkin Anspruch genommen war, dass er nichts sah, was nicht unmittelbar vor ihm lag. Der junge Mann fand den Grabstein, nach dem er gesucht hatte, und blieb stehen. Zögernd streckte er eine Hand aus und berührte ihn mit einer sanften, zärtlichen Geste, als striche er einem geliebten Menschen das Haar aus der Stirn. Dann drehte er sich abrupt um und marschierte davon.
Michael raffte sich auf, um ebenfalls zu gehen, doch dann überkam ihn die Neugier. Er ging zu dem Grab, vor dem der junge Mann gestanden hatte. Als er den Namen las, war er nicht überrascht. Es war unvermeidlich gewesen.
Abigail Mantel
.
Als Michael die schmale Straße wieder erreichte, war der verstörte junge Mann nirgends zu sehen. Vielleicht war er ja in die andere Richtung gegangen, zum Fluss hinab, obwohl man sich bei diesem Stand der Gezeiten dort nirgends unterstellen konnte, da waren nur eine weite Schlickwüste, ein paar aufgelaufene Boote, Silbermöwen auf Beutezug.
Als er zurück ins Dorf kam, wartete eine Horde Teenager vor dem Kirchentor auf den Schulbus. Es war ein verwahrloster Haufen, völlig außer Rand und Band. Seine Jeanie hatte sich nie so aufgeführt. Nie hätte sie einen Rock getragen, in dem man ihren Hintern sah, und sich so viel Schminke ins Gesicht geschmiert wie ein Schauspieler, der eine Frau geben wollte. Das sagte Michael sich im Näherkommen. Dass er so etwas missbilligte und dass die Eltern es doch besser wissen sollten. Vor allem zwei Mädchen, die ein Stück abseits standen, erregten sein Missfallen. Eine von beiden rauchte, und die andere sprach in ihr Handy. Die Art, wie sie dastand und sich das Telefon ans Ohr hielt, rief eine Erinnerung in ihm wach, und er war wieder auf dem Friedhof vor Pegs Grab, wieder in der Vergangenheitverschwunden. Das Mädchen lachte schrill auf, das brachte ihn zurück in die Gegenwart. Und da wusste er, dass er sich etwas vormachte. Sie erregten nicht im Mindesten sein Missfallen. Er bewunderte sie. Sie hatten die gleiche Lebenslust wie Abigail Mantel. Und sie erregten ihn auch mit ihren lockigen Haaren, die sie am Hinterkopf zusammengebunden hatten, ihrem herausfordernden Blick und den seidigen Beinen. Er hätte gern etwas zu ihnen gesagt, nichts Wichtiges, nur kurz gegrüßt, um eine Beziehung herzustellen, doch da kam schon der Bus die Straße hochgeächzt. Die Mädchen warfen sich ihre Taschen über die Schultern. Die eine ließ ihre Zigarette fallen und trat sie mit ihrem klobigen Schuh aus. Auch gut, dachte Michael. Er hätte sich sowieso nur zum Narren gemacht.
Als der Bus davonfuhr, sah er, dass er nicht der einzige Beobachter war. Vor der Alten Schmiede stand der Expolizist, dieser Mann, der mit Fletcher gekommen war, um Jeanie zu verhaften. Auf dem Gesicht des Mannes zeigte sich der gleiche wehmütige Ausdruck, der wahrscheinlich auch auf seinem eigenen Gesicht lag, dachte Michael. Was war es, das an ihm nagte? Der Sex oder das Alter. Eins von beiden musste es sein. Michael eilte weiter, um Vera Stanhope anzurufen.
Kapitel achtzehn
Als James zu Hause ankam, war alles still. Er war bei der Arbeit gewesen, hatte einen Tanker von der Flussmündung in den Hafen von Hull gebracht. Eine kurze Schicht ohne Komplikationen. Ohne Geistererscheinungen. Mit dem Kapitänhatte er schon vorher ein paarmal zusammengearbeitet, und sie verstanden sich gut. Als er auf der Landspitze auf das Boot wartete, das ihn zu dem Schiff bringen sollte, schaute James zu Wendys Haus hinüber und sah, dass die Vorhänge zugezogen waren. Dahinter brannte Licht, und er glaubte, eine Bewegung wahrzunehmen. Nicht ein Schatten. Zwei. Doch dann rief Stan, der andere Steuermann, ihn aufs Boot, und er war sich nicht sicher. Schließlich ging es ihn ja auch nichts an.
Alles war also wie immer gewesen, bis er vor seiner Haustür stand, die Schlüssel schon in der Hand. Dann, auf einmal, fing er an zu zittern. Er musste sich am Türpfosten abstützen. Plötzlich überkam ihn eine nicht greifbare Angst, dass irgendetwas Furchtbares passiert sein musste. Auf einmal war er wieder der junge Mann, der nach Hause kam, um schlechte Neuigkeiten zu erfahren. Nervös drehte er den Schlüssel im Schloss und stieß die Tür auf.
«Emma. Emma, bist du da?»
Sie kam in den Flur, um ihn zu begrüßen.
«Natürlich. Was ist denn los?»
Er antwortete nicht gleich. Er hörte die Stimme einer fremden Frau, dann wurde ihm klar, dass sie aus dem Radio kam. Er
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