Opferschuld
kommt.» Sie schwieg kurz und fügte dann hinzu: «Und vielleicht wollen Sie ja eine kleine Tasche für Jeanie packen. Nur das Nötigste. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Anklage gegen sie erhoben wird.» Ihre Stimme klang bedächtig, melodiös, doch im Rückblick verstand Michael, dass dies für sie der Augenblick des Triumphs war.
Sie sah sie beide abwechselnd an. «Sie verstehen doch, was ich sage? Wenn wir Ihre Tochter verhaften, bleibt sie in Untersuchungshaft, bis sie vor Gericht gestellt wird. Sie wird nicht auf Kaution freikommen. Das ist völlig ausgeschlossen, wenn die Anklage auf Mord lautet. Es ist nur recht und billig, dass Sie verstehen, dass so etwas passieren könnte.» Sie lächelte sie an, als täte sie ihnen einen Gefallen damit, dass sie sie ins Vertrauen zog.
«Was passiert, wenn sie sich weigert, mit Ihnen zu gehen?», fragte Peg.
«Dann nehmen wir sie jetzt gleich fest.»
Peg sah aus, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen, doch Michael begriff nicht, was die Szene, die sich da vor ihm abspielte, bedeutete. Er sah, wie der Mund der Kommissarinauf- und zuging, aber seine Aufmerksamkeit wurde von dem Mann gefesselt, der direkt hinter ihr stand. Dan Greenwood war einen Schritt nach vorn getreten, meinte Michael sich jetzt nach all den Jahren zu erinnern, er hatte sogar etwas gesagt, um sich einzumischen. «Ma’am –» Eine erhobene Hand. Ein geöffneter Mund. Ein einziges Wort. «Ma’am.» Der Schnee auf seiner Jacke war nun ganz geschmolzen. Das Wasser schimmerte auf dem Gewebe wie Tautropfen.
Inspector Fletcher warf ihm einen Blick über die Schulter zu. «Ja, Greenwood?» So eisig wie das Wetter draußen. Und Michael dachte, dass es da etwas Persönliches geben müsse zwischen den beiden, mehr als nur berufliche Rivalität. Eine gescheiterte Liebesbeziehung? Vielleicht. Es herrschte genau diese Art von Spannung. Das alles dachte Michael, während Peg immer nur denken konnte, dass ihr einziges Kind wegen Mordes verhaftet würde. Und was dachte Jeanie? Über Jeanies Gefühle machte er sich damals überhaupt keine Gedanken.
Der Sergeant antwortete nicht gleich, und die Kommissarin roch ihren Vorteil und fragte schärfer: «Nun, Greenwood? Was gibt es?»
Und aus irgendeinem Grund verließ den Sergeant der Mut. Er zerfiel in Stücke. «Nichts, Ma’am.» Und schon hasste er sich für seine Feigheit, Michael sah es ihm an. Schließlich hatte er sich selbst einst an einen Tisch mit Keith Mantel gesetzt. Auch das war ein Verrat gewesen.
In dem Moment wurde Michael klar, dass von ihm etwas erwartet wurde. Sein Blickwinkel verschob sich, und er sah das ganze Bild, nicht mehr nur einzelne Splitter: Peg in Tränen, Jeanie leichenblass. Als Herr des Hauses hatte er eine Rolle zu spielen, und er spielte sie auf die einzige Art, die er kannte, er tobte und schrie.
«Mit welchem Recht kommen Sie in mein Haus und beschuldigen meine Tochter, einen Mord begangen zu haben?»
Aber er war nicht mit dem Herzen dabei, und das spürten sie. Jeanie ging zwischen den beiden Polizisten nach draußen zu dem Auto, sah einmal zurück, mit dem leeren, ausdruckslosen Blick, mit dem sie ihre Eltern schon immer ausgeschlossen hatte. Als eine Schneeflocke auf ihre Wange fiel, schien sie zusammenzuzucken.
Michael erschauderte, als er jetzt auf Pegs Grab hinabsah. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung auf der anderen Seite des Friedhofs. Noch ein Trauernder. Ihm wurde klar, wie merkwürdig er aussehen musste, wie er da im Dämmerlicht stand, vom Wind zerzaust und den Tränen nah. Ein Geistesgestörter, der aus dem Irrenhaus entkommen war. Aber die Gestalt, die gerade durch das schmiedeeiserne Tor gekommen war, schien ebenso verzweifelt zu sein wie er selbst und hatte Michael offenbar nicht bemerkt. Sie waren wesensgleich. Auch wenn der andere jünger war, groß und drahtig, steckte er anscheinend genauso in einem Gefühlschaos. Er trug einen langen Anorak, der offen stand. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben, und er bewegte sich roboterhaft, warf die Arme vor und zurück, sodass der Anorak vorne auf- und zuklappte wie ein Flügelschlag. Einmal blieb er mit dem Rücken zu Michael stehen und hielt sich die Hand ans Ohr. Er schien leise mit sich selbst zu sprechen. Dann ging er die Reihe Gräber weiter entlang. Jeder anständige Passant musste allmählich zu dem Schluss kommen, dass es einen Massenausbruch aus dem Irrenhaus gegeben habe, dachte Michael.
Er rührte sich nicht. Er wollte den
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