Opferschuld
Weinglas in einzelne Stücke. Plötzlich schien sie einzuknicken, und das Glas kullerte ihr weg. Sie stand da und krümmte sich vor Schmerzen. Er war gerade erst von der Schicht heimgekommen, saß am Tisch undtrank Tee. Er fing das Glas auf, bevor es herunterfiel, aber als er aufstand, um ihr zu helfen, winkte sie ihn weg, als wisse sie schon, was zu tun sei, und da wusste er, dass das nicht zum ersten Mal passiert war. Dann klingelte es an der Tür, und Peg sagte: «Geh bitte und mach auf.» Voller Ungeduld. Der Schmerz hatte sie auffahren lassen, dachte er, und jetzt brauchte sie Zeit, um sich wieder zu sammeln.
Vor der Tür standen zwei Leute von der Polizei. Nicht in Uniform, aber er erkannte sie gleich, diese Frau, Inspector Fletcher, und ihren Sergeant, den riesigen Kerl. Greenwood. Michael sah sie jetzt noch vor sich, wie sie da standen. Es schneite, und die dicken weichen Flocken blieben an ihren Mänteln hängen, schmolzen langsam und behielten dabei ihre Kristallform. Die Frau lächelte. Es war kein falsches Lächeln. Es war, als freute sie sich wirklich, Michael zu sehen, und das gefiel ihm. Wenn es um Frauen ging, hatte er sich schon immer zum Narren gemacht. Sich von ihren Schmeicheleien täuschen lassen.
«Dürfen wir kurz hereinkommen?», fragte sie. Sie stampfte auf die Fußmatte, um den Schnee abzuklopfen. Ihre Stiefel hatten schmale Absätze, fast schon spitz, und obwohl sie sonst elegant gekleidet war, fand er, dass die Stiefel etwas Frivoles, sogar Nuttiges hatten. Der Mann, Dan Greenwood, wirkte unruhig, nervös. Später, als er ins Dorf zog, kursierten allerlei Gerüchte. Michael hörte, er habe einen Zusammenbruch erlitten. Vielleicht war er ja damals schon kurz davor, krank zu werden. Michael spürte, dass es ihn große Willenskraft kostete, seiner Vorgesetzten ins Haus zu folgen.
«Ist Jeanie da?», fragte Fletcher, aber es klang nicht so, als müsste sie dringend mit ihr reden. Eher als wäre sie sowieso in der Nähe gewesen, und da könnte sie ja auch mal kurz mit ihr plaudern. Durch die offenstehende Küchentürwarf Peg ihm einen eindringlichen Blick zu. Sie schien ihm etwas sagen zu wollen, aber er verstand nicht, was das war. Er spürte die Gefahr nicht kommen.
«Sie ist oben», sagte er und rief hoch, dass Jeanie herunterkommen solle. Peg drehte sich verzweifelt weg. Sie war immer klüger gewesen als er. Sie musste in dem Moment schon gewusst haben, weswegen die Polizei da war.
Jeanie kam nicht gleich aus ihrem Zimmer, und sie standen im Flur und blickten die Treppe hoch, verrenkten sich erwartungsvoll die Hälse. Auf Michaels Aufforderung hatte sie nicht geantwortet, man hörte kein Geräusch und keine Regung, und die Spannung wurde immer intensiver, er sah sie vor sich wie ein Gummiband, das jeden Moment reißen konnte. War ihm da klargeworden, weshalb die Polizei wirklich gekommen war? Oder hatte er es immer noch nicht kapiert?
Dann hörte man das leise Klicken, mit dem die Tür geöffnet wurde, und Jeanie erschien oben am Treppenabsatz. Sie trug Jeans und einen grünen Pullover mit einem großen Kragen. Keine Schuhe, nur dicke Wollsocken, man hörte ihre Schritte nicht. Die Socken waren das Erste, was sie durch das Geländer sahen, als Jeanie die Treppe herunterkam. Seit Abigail ermordet worden war, hatte sie an Gewicht verloren. Das fiel Michael auf, als er so zu ihr hochsah. Ohne jedes Mitleid dachte er, dass sie wohl kaum aus Trauer um das Mädchen nichts mehr aß. Es war ganz erbärmlicher Liebeskummer. Sie schwand dahin, weil Mantel nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.
Genau da kam Peg aus der Küche. Sie hielt sich ganz steif, als hätte sie Angst, der Schmerz würde wiederkommen, und war trotzdem zum Kampf bereit.
«Was wollen Sie denn jetzt schon wieder von ihr?» Sie spuckte der Kommissarin die Worte entgegen.
Fletcher drehte sich zu Peg um. Ihre Haare schwangen durch die Luft wie in einer Shampoo-Werbung, sie glänzten und fielen gehorsam wieder in den perfekten Sitz zurück. Sie sah Peg einen Moment lang an, als überlege sie, ob sie überhaupt antworten musste.
«Wir würden Jeanie gern noch ein paar Fragen stellen. Auf dem Revier. Wir brauchen ihre Hilfe bei den Ermittlungen.»
«Ohne Anwalt reden Sie nicht mehr mit ihr!»
«Gut», sagte die Kommissarin und nickte anerkennend, als wäre Peg neben ihr der einzige Mensch im Raum, der gescheit genug war, den Ernst der Lage zu erkennen. «Dann sorgen Sie besser dafür, dass ihr Anwalt so schnell wie möglich
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